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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman
Autoren: Thomas Glavinic
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alpinistischer Tradition. Mit denen werden wir noch unseren Spaß haben, meine Fresse.«
    »Und wer ist dieser Hank?« fragte Jonas leise.
    »Hank Williams, Universitätsdozent aus Kalifornien. In Wahrheit heißt er anders, sie nennen ihn nur so wegen seiner musikalischen Vorlieben. Ich mag ihn.«
    »Wir wollen das nicht hier und jetzt diskutieren«, rief Hadan gegen den anschwellenden Chor erregter Stimmen, »maßgeblich für uns ist einzig, dass es am Berg nicht genug erfahrene Sherpas gibt. Natürlich hat das die Preise hochgetrieben, aber da ich diesen Mehraufwand einzig aus Edelmut und keineswegs wegen meiner totalen juristischen Ohnmacht nicht an meine Kunden weitergebe, betrifft euch das nicht. Uns sollte neben der Tatsache, dass wir nicht genug Träger haben, eher Sorgen machen, was es bedeutet, wenn ein paar hundert Amateure ohne ausreichende Sherpaunterstützung auf diesem Monster von einem Berg herumspazieren. Das wird uns in hohem Maß betreffen, denn so groß und mächtig dieser Berg auch ist, so wenig Platz gibt es darauf. Damit hier niemand stirbt, ist neben dem Können der Bergsteiger und viel Glück auch eine Menge Koordination und Disziplin notwendig, und ich kann die Rolle der einheimischen Helfer gar nicht genug herausstreichen.«
    »Hadan hört sich gern reden«, flüsterte Sam.
    »Ich fasse es nicht«, rief Annes Verlobter, »die trauen sich nicht auf ihren Berg, weil in einem Monat fünf Minuten lang die Sonne verschwindet, und deswegen bricht hier das Chaos aus?«
    Sam stieß Jonas an und lachte leise. Jonas fing den Blick einer jungen Frau auf. Sie lächelte ihm zu und verdrehte die Augen.
    »Tiago, wenn du etwas auf dem Herzen hast, erzähl es mir später«, sagte Hadan scharf. »Wir sind nicht hierhergekommen, um über die Gebräuche unserer Gastgeber zu urteilen. Wir sind Gäste und benehmen uns als solche.«
    Sein Blick schweifte vom einen zum Nächsten. Erst jetzt fiel Jonas auf, dass in Hadans Vollbart Eiskristalle hingen. Sein Haar war zerzaust, um den Hals trug er eine Kette mit einem Xi-Stein. Wie Jonas seinen Expeditionsleiter einschätzte, war es ein echter.
    »Hört mir genau zu. Was ich nun sage, muss jedem von euch in allen Konsequenzen klar sein. Zu Hause, in der Ferne, war es Theorie. Nun ist es Realität. Ihr könnt hier sterben. Es gibt eine absolut reale Chance, von diesem Berg nicht mehr runterzukommen. Da oben, ja sogar hier im Lager, kann es sehr schnell gehen, denn die Höhe bringt euch um. Ein Lungenödem, ein Hirnödem, in weniger als einer halben Stunde seid ihr außer Gefecht. Gar nicht zu reden von der Unfallgefahr, von Schwächeattacken, wir haben hier jedes Jahr ein, zwei Herzinfarkte, und die Schlaganfälle hat noch keiner gezählt. Generell ist die Südseite des Berges die gefährlichere. Aber wir haben uns bewusst für sie entschieden und müssen mit den Risiken umgehen.«
    »Hadan hört sich übrigens sehr gern reden«, flüsterte Sam.
    Hadan raschelte erneut mit den Papieren in seiner Hand. Sein Blick ruhte auf Anne und Tiago.
    »Ich will, dass ihr Bescheid wisst: Dies könnten die letzten Tage eures Lebens sein. Lasst das auf euch wirken. Und vergesst nicht, dass ihr niemals nur euch selbst gefährdet, wenn ihr Unsinn macht, sondern immer auch die Menschen, die euch aus dem Schlamassel wieder rauszuholen versuchen.
    Und zum anderen: Gebt die Heldenphantasien auf, die ihr von zu Hause mitgebracht habt. Das ist kein heroischer Berg, so wie es keine heroische Art zu sterben ist, da oben für alle Zeit festzufrieren. Hier werden keine Heldenepen geschrieben, jedenfalls nicht von euch. Die einzigen Helden, die es hier gibt, sind die Sherpas, die eure Ausrüstung, euren Sauerstoff, eure Zelte da hochschaffen, die euch Schnee schmelzen und Tee kochen und im Extremfall eure Seelen retten, also erweist ihnen eure Dankbarkeit.«
    Er räusperte sich. Es blieb still.
    »Hörst du«, flüsterte Sam und stieß Jonas an, »unsere Seelen werden von ihnen gerettet, das ist doch wirklich nett von den tapferen Sherpas.«
    »Bitte hör auf«, sagte Jonas, »wenn ich lache, werden die Kopfschmerzen noch schlimmer.«
    »Gut, soweit alles klar?« rief Hadan. »Zwei Dinge akzeptiere ich nicht: Respektlosigkeit gegenüber unseren einheimischen Freunden und Widerstand gegen meine Entscheidungen.«
    »Ho, ho!« rief Tiago.
    »Ihr habt mich nicht dafür bezahlt, damit ich euch auf den Gipfel des Everest bringe. Das glaubt ihr vielleicht, aber so verhält es sich nicht. Ihr habt mich
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