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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman
Autoren: Thomas Glavinic
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stürzen, unvorhergesehene Ereignisse verändern den Lauf der Welt, doch hier drinnen wird nichts davon zu spüren sein.«
    »Aha.«
    »Mike, lass das!« rief Werner. »Nicht! Mensch, jetzt hat er alle Kerzen ausgeblasen!«
    »Macht ja nichts«, sagte Jonas über die Schulter nach hinten. Und zu Picco gewandt: »Ich verstehe nicht. Was heißt das genau?«
    »Was ihr in diesem Zimmer seht, ist ein Geschenk der Gegenwart, es ist ein Zimmer für die Gegenwart. Ihr werdet nicht immer zwölf sein. Es sind noch einige weitere Zimmer da. Es wird sie jedoch niemand mehr betreten, bis ihr kommt, oder euer zukünftiges Ich. Bis dahin werden sie unverändert bleiben. Das sind Zeitkapseln.«
    »Heißt das, jedes Jahr gibt’s ein neues Zimmer?« fragte Werner. »Und da ist mehr drin als hier?«
    »Nein, nicht jedes Jahr, viel seltener, nur ein paar Mal in eurem Leben. Und die Türen sind versperrt. Und ja, ihr werdet in den Zimmern Dinge vorfinden. Mehr sage ich nicht.«
    Jonas schnitt zwei Stück Torte ab. Den ersten Teller brachte er Mike, den zweiten Teller Picco.
    »Aber«, sagte er, »was heißt das …«
    »Mehr sage ich nicht!«
    »Ich will aber mehr wissen!«
    »Antworten werden überschätzt.«
    »Ich frage trotzdem!«
    »Du wirst nichts mehr erfahren, also frag nicht!«
    »Ich frage trotzdem! Wie finden wir die Schlüssel? Wie suchen wir danach? Die Welt ist groß.«
    »Das stimmt, die Welt ist groß, und deshalb sage ich dir, ich weiß nicht, ob es richtig wäre, danach zu suchen. Manche Dinge findet man nicht, wenn man sie sucht, so schlau und kühn man es auch anstellen mag, denn manche Dinge kommen zu einem, wenn man gar nicht danach verlangt. Die große Liebe etwa kommt nur dann, wenn man sie eben nicht sucht. Anderes wieder muss man suchen, suchen, suchen, nur dann gibt es eine Chance, es zu finden. Ich kann nicht sagen, was ihr hier tun sollt. Ich kann euch bloß verraten, dass sich hinter all diesen Türen hier weitere Räume befinden, Räume mit weiteren versperrten Türen, und dass ihr sehr alt werden müsst, um alle Zimmer sehen zu können.«
    »Wann finden wir den nächsten Schlüssel?« mischte sich Werner ein. »Was ist in diesen Zimmern?«
    »Lasst euch überraschen. Ihr könnt jederzeit hierher kommen, aber ihr seid auch für diesen Ort verantwortlich.«
    »Dürfen wir Freunde mitbringen?«
    »Nein. Die einzige Person, der ihr dies hier zeigen dürft, ist die Frau, die ihr liebt. Aber dafür ist es noch ein wenig früh.«
    »Nur weil wir welche sind, brauchst du uns nicht immer wie Kinder zu behandeln«, sagte Jonas.
    »Entschuldige«, sagte Picco.
    »Hat das Haus einen Namen?« fragte Werner. »Hier sind wir Könige, die Könige von – wie heißt das Haus?«
    »Die Könige der Zeitkapsel«, sagte Jonas, »das sind wir.«
    Viel später würde Jonas die Geschichte dieses Nachmittags Marie erzählen. Und sie, sie würde ihn einen verrückten König der Zeitkapsel nennen, mehr als einmal. »Betrunkener König der Zeitkapsel« einmal in der Achterbahn in Hamburg, »unsteter König der Zeitkapsel« bei mehr als einem Abschied, »abwesender König der Zeitkapsel« in tausend SMS.
     
    Für Jonas und Werner hieß das Haus bald nur noch die Burg. Zu Anfang nutzten sie sie fast jeden Tag, ließen sich von Zach oder dem traurigen Gruber hochfahren, tranken Kakao und wetteten, wer von dem nach Fisch schmeckenden Kuchen, den ihnen Regina mitgegeben hatte, mehr verdrücken konnte. Sie spielten Fußball und Drehfußball, hüpften auf dem Trampolin, das ihnen Picco noch von Gruber hatte bringen lassen, schossen mit Pfeil und Bogen durch den Saal, suchten nach einem weiteren Schlüssel, übten das Chi Sao. Letzteres nur, wenn Mike nicht dabei war, denn ihre Bewegungen waren ihm nicht geheuer, und er versteckte sich unter einem Tisch.
    Mit der Zeit wurde es allerdings auch ihnen unheimlich allein in dem riesigen Haus, in dessen Nähe überdies je nach Jahreszeit oft dichter Nebel auf den Feldern lag. Sie glaubten Stimmen oder Schritte zu hören, mal ein Klopfen, mal das Quietschen eines Bettes, mal gar ein heiseres Lachen. Sie versuchten die Phantasie des jeweils anderen mit Spekulationen über das anzuheizen, was rund um sie vorging.
    »Glaubst du, es gibt Gespenster?« fragte Werner.
    »Natürlich gibt es sie.«
    »Hast du schon mal eines gesehen?«
    »Na, das wüsstest du bestimmt.«
    »Wieso glaubst du dann an sie?«
    »Weil es logisch ist, dass es sie gibt, oder etwas, was man so nennen könnte. Wohin soll denn
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