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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman
Autoren: Thomas Glavinic
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Beginn des Eisbruchs fiel es ihm ein.
    Er vermisste die Stimme in seinem Kopf. Er hatte sie so lange nicht gehört. Und nun war sie wieder weg.
     
    Bewusstsein. Zuweilen getrübt, aber Bewusstsein. Er kehrte in die Welt zurück. Er würde ihr nicht wieder entgleiten. Und sie ihm auch nicht.
     
    »Nina, erzähl mir jetzt alles«, bat er, ehe sie in Lager 1 aufbrachen und er zum letzten Mal den Eisbruch betrat. »Ich will es wissen, ehe ich unten bin.«
    »Stimmt.« Sie nickte, doch sie schaute weg. »Du solltest alles wissen. Es sind viele Leute gestorben.«
    »Menschen, die wir kennen?«
    »Anne, Andrea, Carla. Die drei waren unter der Lawine, zusammen mit vier anderen Bergsteigern. Zwei Bulgaren, einem Argentinier und einem Amerikaner.«
    »Mein Gott. Und ich habe es gewusst. Ich habe gewusst, dass mit diesem Schneefeld etwas nicht stimmt.«
    »Das ist noch nicht alles. Beim Abstieg hat es zwei der Gehörlosen erwischt, sie sind abgestürzt. Ein Belgier ist an einem Lungenödem gestorben. Und von einer Dänin fehlt jede Spur.«
    Jonas wusste nicht, was er erwidern sollte. Sein Kopf war leer. Er erinnerte sich an Carla, an Anne, an Andrea und die Stunden, die sie auf dem Südsattel miteinander verbracht hatten, und schickte ein paar Worte für sie nach oben, wer immer sie empfangen mochte.
    »Hadan tut mir so leid«, sagte er.
    »Es geht ihm nicht gut, aber er kommt darüber hinweg. Deine Rettung hat wohl zu so etwas wie einem versöhnlichen Ende für ihn geführt. Am Abend nach dem Unglück hättest du ihn sehen sollen. Das werde ich nie vergessen.«
     
    Je näher er dem Basislager kam, desto nervöser wurde Jonas. Die Schmerzen in seinen Händen und Füßen ließen nach, dafür schlug sein Herz immer schneller. Die Luft kam ihm unnatürlich zäh und dick vor, und er fragte sich, wie es ihm wohl erst in Kathmandu gehen würde.
    Der erste, der ihm im Messezelt um den Hals fiel, war Sam. Er drückte ihn, bis Jonas die Luft wegblieb, danach war Hadan an der Reihe. Pemba und Padang rieben ihm die Stirn, sie meinten, auf diese Weise gehe ein wenig von seinem Glück auf sie über. Danach kamen nicht mehr viele Leute, die meisten Überlebenden waren bereits auf dem Weg nach Kathmandu. Es herrschte eine Stimmung wie nach einer tagelangen Schlacht, es wurde nicht viel geredet.
    »Du blöder Hund!« rief Sam. »Du hast uns alle Nerven gekostet, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen! Auf jeden von uns, der glaubte, du wärst noch am Leben, kamen zwei oder drei, die dich abgeschrieben hatten. Ich war natürlich immer davon überzeugt, dass du lebst und wieder runterkommst!«
    »Ich nicht. Kann ich was zu trinken haben?«
    Wo steckt sie?
    »Da sind ein paar Leute, die Interviews von dir wollen«, sagte Hadan. »Soll ich sie zum Teufel schicken?«
    Jonas nickte und war im selben Moment froh, dass niemand hier seinen richtigen Nachnamen kannte.
    »Was ist eigentlich passiert?« fragte Manuel, der mit einem Verband auf dem Auge neben ihm saß.
    »Ja, jetzt erzähl! Wieso bist du denn bloß weitergegangen, das war doch Irrsinn!«
    »Ich hatte mir so was bei dir schon gedacht«, sagte Padang. »Ang Babu wusste es auch. Er sagte, der wird Blödsinn machen.«
    »Erzähl uns endlich, was für einen Blödsinn du gemacht hast!« drängte Sam. »Und spar nicht mit Details! Wir wollen alles wissen!«
    Jonas hatte das Gefühl, fliehen zu müssen. Er fiel in Löcher, hatte Aussetzer, ab und zu zuckte ein Arm oder ein Bein unkontrolliert und schickte eine Welle von Schmerz durch seinen Körper.
    Ich habe mir das eingebildet. Sie ist gar nicht da.
    »Leute, mir ist das jetzt zuviel. Könnt ihr mich zu meinem Zelt bringen? Und darauf achten, dass keiner Fotos macht?«
     
    Jonas kroch in sein Zelt und zog den Reißverschluss zu.
    »Brauchst du noch was?« hörte er von draußen.
    »Nichts als ein bisschen Ruhe«, sagte er. Und noch etwas, das leider nicht da ist, fügte er in Gedanken hinzu.
    Er schaute nach oben zur Decke und dachte:
    Dies ist eine Decke. Es ist nur eine Zeltdecke, doch es ist eine Decke.
    Die Decke war hier, als ich hier war.
    Die Decke war hier, als ich nicht hier war.
    Die Decke war hier, als ich da oben an sie dachte, und jetzt bin ich hier und denke an da oben und bin zurück.
    Der Brief kommt nach Oslo, dachte er. Ich werde ihn niemals öffnen.
    Wenn du etwas zu Ende bringst, dachte er, denk an den Moment, in dem es begonnen hat.
     
    Eine Viertelstunde darauf wurde der Reißverschluss am Eingang
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