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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman
Autoren: Thomas Glavinic
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Junge?
    Glauben Sie, ich habe vor Ihnen Angst? Weder heute noch morgen noch in einer Million Jahren. Sie wissen nicht, was eine Sonnenfinsternis ist, Sie verstehen sie zwar theoretisch, doch Sie verstehen nicht, was für ein bewegendes Ereignis das ist, das berührt Sie nicht. Haben Sie eigentlich einen Schatten? Ich frage ja nur. Vor zwei Milliarden Jahren hat der Mond auch die Korona verdeckt, in zwei Milliarden Jahren verdeckt er nicht mehr die ganze Scheibe. Und jetzt denken Sie mal, da hat man heutzutage seine achtzig Jahre, wenn’s hochkommt. Wir sind nichts. Wir sind so wenig, dass es eigentlich zum Totlachen ist. Aber genau darum ist das Leben vielleicht so kostbar. Und das soll ich mir nehmen lassen? Von Ihnen nicht. Das sagt mir nämlich die Sonne, wenn sie verschwindet und wiederkehrt. Wissen Sie, dass die Mayas Menschenopfer dargebracht haben sollen, um die Sonne zurückzuholen? Die Chinesen denken, ein großer Drache würde die Sonne verschlucken, und die Polynesier sagen, es handle sich um einen Fick zwischen Sonne und Mond.
    Ich glaube, das reicht jetzt. Er sagt nichts mehr.
    Stimmt. Er schaut ja nicht einmal mehr her.
    Dann lass uns abhauen. Du musst noch was erledigen.
    Der zweite Mann, der neben dem Felsen auf der Seite lag, zeigte Jonas den Mittelfinger.
     
    Aufstehen kann sehr schwierig sein.
    Schmerzen können sehr schwierig sein.
    Gehen auch.
    Gehen.
    Denken.
    Nicht nicht denken.
    Dableiben in der Welt und denken.
    Denk an dein Zelt. Dort willst du hin. Denk an die Zeltdecke. Sie ist jetzt da, und dort willst du hin. Sie wartet auf dich.
     
    Es gelang ihm nicht. Es gelang ihm nicht, ganz in der Wirklichkeit zu bleiben, aber es gelang ihm, sich weiterzuschleppen. Die Sonne wanderte über den Himmel, und die Wolken unter ihm lösten sich auf. Er begriff, dass dies gute Zeichen waren. Aber er wusste, es war noch lange nicht vorbei.
     
    Einmal, er mochte zehn gewesen sein oder elf, hatte ihn Picco beiseitegenommen und gefragt, ob er schon etwas über die Welt wisse.
    »Ich weiß viel!« hatte Jonas beleidigt geantwortet.
    »Na? Und was weißt du?«
    »Man muss zur Schule gehen. Man muss nett zu anderen Leuten sein. Man muss baden und Zähne putzen. Man …«
    »Solchen Schnickschnack meine ich nicht«, unterbrach ihn Picco. »Ich meine etwas Tieferes. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
    »Ich bin ein Kind, aber ich bin nicht dumm!«
    »Nun, weißt du etwas Tiefes über die Welt?«
    »Vieles.«
    »Verrätst du mir etwas davon?«
    »Ich weiß etwas über Geheimnisse. Es ist wichtig, welche zu haben.«
    »So? Was noch?«
    »Ich weiß etwas über die Menschen. Im Mai sitzen sie alle draußen und tun so, als wären sie glücklich. Stimmt’s?«
    »Das stimmt. Was noch?«
    »Über Menschen weiß ich schon einiges. Die meisten von ihnen leben nicht richtig, sie glauben es nur. Und viele sind nur für mich da, die gibt es gar nicht wirklich.«
    »Du weißt eine Menge für dein Alter.«
    »Ich weiß noch mehr. Ich weiß, dass ein Erwachsener, der einem Kind solche Fragen stellt, ziemlich seltsam ist.«
    Picco lachte.
     
    Er war sich nicht sicher, aber er glaubte die Stelle, an der er gerade vorbeigekommen war, wiederzuerkennen. Und wenn er recht hatte, war er nicht weit von Lager 4 entfernt, möglicherweise nicht mehr als eine Stunde. Vielleicht zwei.
    Eine kurze Rast.
    Du rastest nicht!
    Plötzlich drehte sich alles um ihn. Ihm wurde schwarz vor Augen, dann fühlte er seine Beine nicht mehr. Auch die Schmerzen in seiner Brust waren weg, alle Schmerzen waren weg. Er sah, wie der Boden auf ihn zukam, und als sein Gesicht in den Schnee fiel, spürte er auch das kaum noch.
    Es war vorbei.
    Du gehst weiter!
    Nein.
    Du gehst!
    Nein!
    Los! Du gehst!
    Hast du mich gerade in den Hintern getreten, sag mal?
    Anders kommt man dir ja nicht bei. Los!
    Jonas schleppte sich auf allen vieren weiter. Er kroch durch den Schnee, ohne sich darum zu kümmern, was mit seinen Händen passierte.
    Nach einer Weile konnte er wieder aufstehen. Warum, wusste er nicht.
    Siehst du, Jonas? Du stehst auf und wandelst.
    Aus dir wäre nie und nimmer ein Heiland geworden.
    Sag das nicht. Oder doch, solange du gehst, darfst du alles sagen.
    Die Frage nach dem Glauben an Gott bedeutet: Magst du Menschen? Oder sollte sie wenigstens bedeuten. Manche verstehen den Glauben falsch. Er ist ja nicht für sie da. Er ist ja für die anderen da.
    Das kann sein, Jonas.
    Jeder Mensch beurteilt sich selbst nach seiner größten Leistung, und
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