Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
recht. Ich habe sie falsch gestellt. Glaubst du, man ist glücklich, wenn man geworden ist, was man ist?«
    »Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht sagen. Vielleicht auch nicht. Aber wenn, dann nur so.«
    »Und du meinst, das Leben ist uns vorbestimmt?«
    »Wann habe ich denn das wieder gesagt? Ich habe gesagt, man muss der werden, der man ist, man muss herausfinden, wer man ist, und der muss man dann werden, auch wenn einem das nicht gefällt.«
    »Ist das nicht Vorbestimmung?«
    »Nicht wirklich. Vielleicht bin ich ein Gewaltverbrecher oder ein Clown, vielleicht ein Automechaniker oder ein Koch, vielleicht bin ich nur das, was ich sein soll, wenn ich in einem Supermarkt arbeite oder wenn ich den ganzen Tag schlafe oder wenn ich Banken ausraube, aber das ist nicht Vorherbestimmung. Vorherbestimmung ist, wenn vorherbestimmt ist, dass mir an einem bestimmten Tag ein Dachziegel auf den Kopf fällt, aber ich glaube nicht, dass ich wichtig genug bin, dass jemand vorherbestimmt, wann mir ein Dachziegel auf den Kopf fallen wird. Ich glaube, ich bin ich, und das muss ich erst werden, weil ich noch ein Kind bin.«
    Picco sah ihn lange an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich landete ein Gummigeschoss in Jonas’ Gesicht, er drehte sich um und sah gerade noch, wie Werner um die Ecke flitzte. Damit war das Gespräch beendet.
    Picco hatte blaue, jungenhaft strahlende Augen und eine herrlich sanfte Stimme, die sanfteste Stimme, die Jonas je gehört hatte, eine Stimme, von der man sich umschmeichelt und getragen fühlte. Er war anders gekleidet als die meisten Männer seines Alters, trug oft Turnschuhe zum Sakko, seine Bewegungen waren ungezwungen und federnd. Wenn er daheim war, bemerkte man das sofort an der Musik von Johnny Cash, die weite Teile des Hauses ausfüllte. Die Hausangestellten – zu Anfang fiel es Jonas schwer, die Übersicht zu behalten, er schätzte ihre Zahl auf sieben oder acht – behandelte Picco mehr als Freunde denn als Untergebene.
    Von denen hatten die Jungen Regina am liebsten. Die Köchin verarztete Wunden, nahm Weinende in den Arm, verteilte Süßigkeiten, erzählte Geschichten und hatte keine Ahnung von dem, was sie am Herd tat.
    »Was kochst du heute?« fragte Jonas.
    »Das weiß ich nicht.«
    »Du meinst, du hast dich noch nicht entschieden?«
    »O doch, aber woher soll ich denn wissen, was dabei rauskommt?«
    Jonas sah ihr zu, und sogar ihm war klar, dass sie ohne große Sachkenntnis ans Werk ging. Planlos vermischte sie Gewürze, Kräuter, Fleisch und Nudeln, und ihrer Miene beim Abschmecken konnte er ablesen, wie neugierig sie selbst auf das Ergebnis ihres Experiments war.
    Zur Leibesfülle neigte hier niemand, auch nicht Gruber, der Gärtner, der in einer Hütte neben dem Haupthaus lebte und sich um alle Reparaturen kümmerte, die auf dem weitläufigen Anwesen anfielen. Seit er sich einmal mit einem Wagenheber ungeschickt angestellt hatte, hinkte er auf dem rechten Bein. Er ging niemals aus, bekam nie Besuch und lachte nie.
    Hohenwarter, der eine Art Beraterstelle für Picco einzunehmen schien, sahen sie unregelmäßig, zu selten, um aus ihm schlau zu werden, jedenfalls nicht in diesen ersten Jahren. Er hatte etwas Verschmitztes und strahlte zugleich eine nachlässige Brutalität aus. Ab und an steckte er den Jungen Geld zu und erzählte ihnen vom alten Rom. Mit seinem kahlen glänzenden Kopf und seinen Maßanzügen, die in heftigem Kontrast zu den Filzpantoffeln standen, in denen er durchs Haus schlich, war er eine ziemlich ungewöhnliche Erscheinung. Erst Jahre später begann Jonas zu verstehen, wie viele Geheimnisse es in diesem Haus gab, deren Mittelpunkt Hohenwarter war, und dass es hier um Geschäfte ging, für deren Dimension ihm auch später noch jeder Begriff fehlte.
     
    Mit zehn kam Jonas ins Krankenhaus, weil ihn ein neuer Freund seiner Mutter verprügelt hatte, genau jener, den Jonas insgeheim »das Affe« nannte, weil so ein Mensch seiner Ansicht nach keinen korrekten Artikel verdiente.
    Anlass für den Vorfall war Mike gewesen. Beim Versuch, eine Bierflasche als Mikrofon zu benützen und einen Sportreporter zu mimen, hatte Mike die Flasche zerschlagen. Das Affe stürzte sich sofort auf ihn und schlug ihm hart ins Gesicht. Ohne nachzudenken, sprang Jonas dazwischen.
    »Hör auf! Lass ihn in Ruhe! Er hat es nicht absichtlich gemacht!«
    Im nächsten Moment lag er auf dem Boden, ohne zu wissen, was ihm geschah. Er verstand nicht, wieso er neben leeren Flaschen und Spuren von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher