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Das Grab - Roman

Das Grab - Roman

Titel: Das Grab - Roman
Autoren: Richard Laymon
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und küssen und sich an ihn pressen würde, ihn so richtig spüren lassen würde, dass sie eine Frau war, nicht nur jemand zum Quatschen. Henry würde sich vielleicht in einen brünstigen Hengst verwandeln.
    Die Vorstellung war nicht gerade verlockend.
    Deshalb hatte sie nichts unternommen, die Art ihrer Beziehung zu ändern. Sie mochte Henry, und er machte sich so lange ganz gut in der Rolle des Freundes, bis vielleicht etwas Besseres kam.
    Was in nächster Zeit nicht sehr wahrscheinlich war.
    Unter all den Jungs, die sie kannte, gab es nicht einen, der sie wirklich interessierte.
    Das hatte sie Paul zu verdanken. Als er weggezogen war, war eine Welt für sie zusammengebrochen.
    Sie bemerkte, dass Henry etwas zu ihr gesagt hatte. »Was?«, fragte sie. »Ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.«
    »War es dort wenigstens interessant?«
    Nur leer, sonst nichts, dachte sie.
    »Nein«, sagte sie. »Was hast du gesagt?«
    »Ich hab überlegt, ob wir uns vielleicht in der Mittagspause treffen könnten. Wir sollten unsere Pläne für kommenden Freitag besprechen.«
    »Klar. Das wäre gut.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Der Spaß beginnt gleich. Ich geh mal lieber wieder zu meinen Ratten zurück.«
    » Ciao «, sagte Henry und schwang mit seinem Drehstuhl herum, den Blick wieder auf seinen Monitor gerichtet. Seine Finger flogen über die Tastatur, und Humphrey winkte und zwinkerte ihr zu.
    Vicki ging an ihren Tisch zurück. Ace und Rob standen vor den Stühlen, hielten sich bei den Händen und sahen einander an. Ace nickte, als Rob etwas sagte. Obwohl sie fast zehn Zentimeter größer war als Rob, wirkte sie neben ihm immer irgendwie nicht so imposant wie sonst, als würde seine Gegenwart ihre weibliche und verletzliche Seite zum Vorschein bringen.
    Vicki wollte die intime Zweisamkeit nicht stören. Sie wandte sich ihrem Tisch zu und griff nach den Latexhandschuhen.
    Sie wünschte, sie hätte nicht an Paul gedacht.
    Manchmal dachte sie tagelang nicht an ihn.
    Ihre Eltern hatten es »Jugendliebe« genannt, was ihr wie ein armseliger Versuch vorkam, ihre Gefühle für Paul herunterzuspielen. Für Vicki war es schlicht Liebe gewesen – und war es noch immer. Die Momente mit Paul waren etwas Besonderes gewesen, schön und erfüllend. Egal, ob sie nur zusammen im Unterricht gesessen oder in einem Kino Händchen gehalten hatten, den ganzen Tag im Wald herumgestromert oder im Fluss geschwommen waren, jeder Augenblick schien einmalig und wertvoll.
    Doch sein Vater war Hauptfeldwebel bei den Marines. Paul war im Herbst von Vickis zweitem Studienjahr an die Ellsworth High gekommen. Sie hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt, ohne zu ahnen, dass ihnen nur dieses eine Schuljahr und der folgende Sommer blieb. Dann erhielt sein Vater neue Befehle, und Paul zog mit seiner Familie auf eine Militärbasis in South Carolina.
    Sie waren fast genau ein Jahr zusammen gewesen. Es war so schnell vergangen.
    Es schien ihr, als wäre die schönste Zeit ihres Lebens vorbei, als Paul fortging. »Du wirst schon darüber hinwegkommen«, hatten ihre Eltern gesagt. Und irgendwie war sie darüber hinweggekommen. In gewisser Weise wenigstens. Es war eher ein daran Gewöhnen als darüber Hinwegkommen. Der Verlust war immer da, tief drinnen, ein Schatten, der jeden Tag etwas weniger hell machte – ein Verlust, der immer dann in ihr Bewusstsein drang, wenn sie an Paul erinnert wurde.
    So wie jetzt.
    Sie fühlte einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust, als sie die Handschuhe anzog.
    Es bringt nichts, wenn du dich jetzt darüber aufregst, dachte sie. Verdammt, wahrscheinlich werde ich im Herbst am College einen sagenhaften Typen kennenlernen.
    Sicher doch.
    Sie schraubte den Deckel des Einmachglases auf, zog mit einer Zange die Ratte heraus und legte sie in die Sezierschale.
    »Das ist wirklich ekelhaft«, sagte Ace. »Jenseits der Kotzgrenze.«
    »Und dein Schimmel ist appetitanregender?«
    Ace sah ihr über die Schulter, als sie die Pfoten der Ratte auf dem Boden der Schale fixierte.
    »Was wollte Rob?«, fragte Vicki.
    »Er fährt mit mir heute Abend ins Drive-in.«
    »Was läuft?«
    »Wen interessiert’s?«, sagte Ace und prustete vergnügt los.
     
    Vicki beschäftigte sich abwechselnd damit, die Innereien ihrer Ratte freizulegen und auf dem Stuhl sitzend mit Ace zu quatschen, für deren Projekt keine praktische Demonstration nötig war. Sie vertrieben sich die Zeit damit, zuzusehen, wie Melvin neugierige Besucher
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