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Das gläserne Paradies

Das gläserne Paradies

Titel: Das gläserne Paradies
Autoren: Petra Durst-Benning
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gegründet worden, der bis zum heutigen Tag Bestand habe.
    Wie gern hätte Wanda das gleiche empfunden! Doch sosehr sie auch in ihrem Inneren forschte, sie konnte kein ähnliches Gefühl feststellen. Ein Vogel war für sie ein Vogel – daß er anders pfiff als der Vogel auf dem nächsten Baum, blieb ihren Ohren fremd. Und als sie einmal einen längeren Waldspaziergang mit Sylvie gewagt hatte, waren die Räder ihres Kinderwagens prompt auf den noch feuchten Wegen eingesunken, was ein Vorankommen äußerst schwer machte. Danach hatte sich Wanda geschworen, nur noch auf den Dorfwegen spazierenzugehen.
    In New York habe ich so etwas eben nicht kennengelernt, dachte sie stumm bei sich.

    Immer wieder kamen Leute vorbei, um Sylvie zu bewundern und von Wanda zu hören, wie Marie gestorben war. Für die Dorfbewohner hatten sich Wanda und Johanna eine eigene Version der Ereignisse zurechtgelegt, die besagte, daß Marie am Kindbettfieber gestorben und derKindsvater während einer Reise ums Leben gekommen war. Es sei Maries Letzter Wille gewesen, daß sie, Wanda, das Kind nach Lauscha brachte und dort aufzog. Von Francos Verbrechen und den Qualen, die Marie durch seine schreckliche Familie hatte erleiden müssen, wußten nur die engsten Familienmitglieder. Nicht einmal Magnus, Maries früheren Lebensgefährten, hatte man eingeweiht.
    Es rührte Wanda, wie freundlich die Menschen von Marie sprachen. Wie jeder sich bemühte, eine Anekdote oder eine kleine Geschichte zum besten zu geben, die mit Marie zu tun hatte. Gleichzeitig spürte sie, wie schwer dies den Leuten fiel – Marie war eine Einzelgängerin gewesen, die nur selten am dörflichen Leben teilgenommen hatte.
    Als Joost Steinmann noch lebte, hatte er ein wachsames Auge auf seine drei Töchter gehabt. Weder Marie noch Johanna oder Ruth war es erlaubt gewesen, auf Tanzfeste oder andere Veranstaltungen zu gehen. Später, als Marie es wagte, das jahrhundertealte Privileg zu brechen – welches besagte, daß nur Männer Glas blasen durften, während Frauen es versilberten, bemalten und verzierten –, hatte sie das Handwerk in der Einsamkeit ihrer Hütte betrieben. Natürlich waren die Leute stolz auf Marie, die Glasbläserin, deren Christbaumkugeln in der ganzen Welt gefragt waren! Das hörte Wanda aus ihren Worten sehr wohl heraus. Was sie jedoch ebenfalls heraushörte, war, daß Maries Schaffensdrang, ihre unermüdliche Kreativität und die Art, wie sie ihren eigenen Weg gegangen war, vielen auch nach all den Jahren suspekt geblieben waren.
    Wanda nahm sich vor, anders als ihre verstorbene Tante aktiv am Lauschaer Dorfleben teilzunehmen. Gleichzeitig hatte sie das beklemmende Gefühl, daß ihr genau diesnicht gelingen wollte: Als Eva und viele andere Frauen im März einen Wohltätigkeitsbasar zugunsten der neuen Kirche veranstaltet hatten, hatte Wanda außer Richard nichts im Kopf gehabt und sich mit ihren mangelnden Handarbeitsfähigkeiten aus der Sache herausgeredet. Als Mitte Mai die Fertigstellung des Kirchenrohbaus gefeiert wurde, war sie auf dem Weg nach Italien gewesen. Als am 19. Mai die neuen Glocken kamen, hatten Richard und sie trunken vor Liebe und Wein fern der Heimat geweilt. Nein, eine rührige Teilnahme am Dorfleben war das gewiß bislang nicht!
    Natürlich fragten Wandas Besucher auch nach Ruth. Zumindest die älteren erinnerten sich noch gut daran, wie die mittlere der Steinmann-Schwestern vor mehr als achtzehn Jahren Lauscha samt Wanda verlassen hatte, um mit ihrem amerikanischen Liebhaber – dem Assistenten des großen Mister Woolworth – ein neues Leben in Amerika zu beginnen. Und alle erinnerten sich ebenfalls daran, wie Thomas, ihr Mann, seine Wut und seine Verzweiflung in Bier und Schnaps ertränkt hatte. Was für eine Tragödie! Was für ein Skandal!
    Nun sollte Ruth zurückkommen – das Glitzern in den Augen der Leute, wenn sie nach ihrem genauen Anreisetag fragten, zeigte Wanda, daß nicht wenige mit einem neuerlichen Skandal rechneten.
    Die Aufregung der Leute weckte Wanda ebenfalls aus ihrer Lethargie. Sie mußte alles dafür tun, daß Ruths Besuch in Lauscha ein Erfolg wurde. Damit die Mutter verstand, warum sie, Wanda, ihr Herz an das gläserne Paradies verloren hatte. Und an Richard natürlich.
    In den nächsten Tagen hastete sie mehrmals die steile Straße vom Haus
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