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Das Gesetz der Balance - chinesisches Gesundheitswissen für ein langes Leben

Das Gesetz der Balance - chinesisches Gesundheitswissen für ein langes Leben

Titel: Das Gesetz der Balance - chinesisches Gesundheitswissen für ein langes Leben
Autoren: Gräfe und Unzer
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hatten, bevor sie selbst pünktlich nach Hause gingen. Nein sagen konnte Frau S. nicht. Es hätte ja sein können, dass die anderen sie dann ablehnten.
    Und das Büro war doch der einzige Ort, wo sie geschätzt und gebraucht wurde.
    Ob sie denn nie in einer Beziehung gelebt hätte, fragte ich. Doch, mit 20 hatte sie einen Freund, der Medizin studierte. Sie war schon berufstätig, führte den Haushalt und half dem Freund, das Studium durchzuziehen. Als sie dann schwanger war, freute sie sich sehr auf das Kind und träumte von der Kleinfamilie.
    Aber der Freund drohte sie zu verlassen, woraufhin sie sich zur Abtreibung entschloss.
    Sie weinte noch jahrelang um das Kind, auch dann noch, als der Freund sein Studium abgeschlossen und ihr den Laufpass gegeben hatte. Nach der Abtreibung nahm sie dann zu. In dieser Zeit schluckte sie auch die Pille und hatte immer mehr Stress mit dem Freund.
    Ich beobachtete während des Gesprächs meine Reaktionen. Ich war ja grundsätzlich mitleidsfähig und leistungsbereit, aber die Kette unglücklicher Entscheidungen und Ereignisse machte mich letztendlich hilflos. Nachdem mir kurz durch den Kopf geschossen war, was ich dem Freund erzählt hätte, der sich jahrelang durchfüttern ließ, um dann nach erfolgreichem Abschluss die Fliege zu machen, kämpfte ich zunehmend mit Ermüdungserscheinungen.
    Alles schien aussichtslos: der durchsichtige Versuch, Zuneigung durch eigene Opferbereitschaft zu erhalten, der sich im Arbeitsleben wiederholte; der Versuch, die eigene Empfindlichkeit durch ein Fettpolster zu stabilisieren.
    Die Unfähigkeit, eigene Bedürfnisse zu artikulieren und zu leben, war offensichtlich. Aus anfänglichem Mitleid wurde bei mir Wut und dann einfach nur Ratlosigkeit.
    Frau S. erzählte munter weiter. Obwohl unser Gespräch schon eine Stunde dauerte, zeigte sie keinerlei Ermüdungserscheinungen. Jetzt berichtete sie auch von ihren Diäten, den Ärzten, die sie gekränkt hatten, der Kurbehandlung, die von der Kasse abgelehnt worden war.
    Wie von selbst kam sie auf die Rolle des Essens in ihrem Elternhaus zusprechen: »Wenn du deine Mama lieb hast, dann isst du jetzt alles auf …« Dazu hatte ihre Mutter doch immer ihren Bruder bevorzugt. Inzwischen war die Mutter pflegebedürftig. Frau S. besuchte sie regelmäßig im Heim, buhlte immer noch um ihre Gunst und wollte, dass ihre Mutter stolz auf sie war. Offenbar war die Mutter aber dement, auf wenige Lebensäußerungen reduziert. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie ihrer Tochter die gewünschte Anerkennung gar nicht mehr zubilligen können.
    Ich suchte nach einem Ausweg – für mich, unser Gespräch und für die Patientin. Was sie denn sonst so mache in ihrer Freizeit, fragte ich sie. Sie lese viel, gab sie zurück. Ein Lichtblick, dachte ich, wenigstens die Fantasie scheint intakt zu sein. Ich erwartete, dass sie Liebesromane, Gedichte oder doch wenigstens Reiseberichte lesen würde. »Was lesen Sie denn am liebsten?«, fragte ich sie. »Den Spiegel«, gab sie zurück. Sie könne nicht verstehen, wie viel Korruption, Elend und Ungerechtigkeit es in der Welt gibt. Es mache sie zwar völlig fertig, zu lesen, was alles passiere und wie schäbig Menschen sich benehmen würden. Aber auf diese Weise sehe sie, dass es auch anderen Menschen nicht gut gehe.
    Daher fühle sie sich weniger unzufrieden mit ihrer eigenen Lebenssituation.
    An diesem Tag habe ich zum ersten Mal begriffen, warum die chinesische Medizin zwischen der Verarbeitung von stofflichen und nicht stofflichen Einflüssen keinen Unterschied macht und warum wir umgangssprachlich mit »verdauen« sowohl das Verarbeiten von Nahrung als auch das Verarbeiten von Erfahrungen meinen. Diese Frau hatte die Fähigkeit, sich ständig zu überfordern, in aussichtslose Situationen zu bringen und an ihnen zu scheitern. Ich begriff, dass Menschen, die im Sumpf stecken, eine Affinität zu Trübem entwickeln und sich freiwillig nach unten ziehen lassen.
    Ich begriff, dass man Informationen – aus der Presse oder heutzutage dem Internet – verwenden kann, sich selbst am Leben zu hindern, und dass es einen Leidensdruck gibt, der sich selbst am Leben erhält.
    Ich begriff, was die Chinesen unter »Mittenschwäche« verstehen – die Unfähigkeit, unverträgliche Außeneinflüsse abzuwehren, sich gegen die Umwelt zu behaupten und seine eigene Persönlichkeit zu entfalten. Ich begriff, wie wenig es nützt, solchen Menschen mit Kalorienplänen zu begegnen, und dass alle Vorwürfe
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