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Das Gesetz der Balance - chinesisches Gesundheitswissen für ein langes Leben

Das Gesetz der Balance - chinesisches Gesundheitswissen für ein langes Leben

Titel: Das Gesetz der Balance - chinesisches Gesundheitswissen für ein langes Leben
Autoren: Gräfe und Unzer
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und Kritikpunkte nichts sind gegen das, was diese Menschen sich selbst bereits antun. Ich begriff, dass durch Gespräche, Verhaltenstherapie oder Diätkuren zwar Symptome verbessert werden können, aber nicht die Grundhaltung, die tief einzementiert das Verhalten bestimmt.
    Es machte mich neugierig, herauszufinden, warum die chinesische Medizin ohne eine Form der Gesprächstherapie auskam und trotzdem Probleme wie das von Frau S. beeinflussen konnte. Ich verstand schließlich, warum das Grübeln, das nutzlose Hin- und-Her-Denken und geistige Aufder-Stelle-Treten als Ausdruck und nicht als Ursache dieser Störung verstanden wird. Und warum trotz allen Überflusses (an Fett und Gewicht) der Mangel (an Widerstandskraft) für die Chinesen im Vordergrund steht: Wer sich nicht abgrenzen kann, der wird zum Mülleimer für Schicksalsschläge, zum Fußabtreter für Kollegen und zum Sammelbecken für nicht Verarbeitetes, das nach TCM-Lehre als »trübe Säfte« die Grundlage für Übergewicht bildet.
    Der Schluss des Gesprächs zog sich noch lange hin. Frau S. schien zu befürchten, ich hätte ihr nicht zugehört, denn sie wiederholte viele Details der Geschichte. Erst nach meiner ich weiß nicht wievielten Zusammenfassung akzeptierte sie, dass unser Gespräch auch einmal ein Ende finden musste. Zu dieser Zeit konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass man solche Probleme mit Heilpflanzen beeinflussen kann. Trotzdem verschrieb ich Frau S. eine »die Mitte stärkende« Pflanzenrezeptur.
    Als sie nach zwei Wochen wiederkam, schien Frau S. mir schon deutlich geordneter. Oder kam mir das nur so vor, weil ich sie ja jetzt schon kannte und mit Schlimmerem gerechnet hatte? Aber irgendwie schien sie meine Fragen besser beantworten zu können. Ja, sie kam mir auch hübscher vor. Sie lächelte zwischendurch und berichtete davon, dass die Pflanzen dazu geführt hätten, dass sie mehr essen konnte, aber nicht mehr zunahm. Während sie früher immer hungerte, kannte sie jetzt plötzlich ein Sättigungsgefühl. Der Heißhunger auf Süßes hatte abgenommen.
    Wir besprachen diätetische Möglichkeiten und sie schien entschlossen, diese ausprobieren zu wollen. Sie wirkte bei Weitem nicht mehr so ermüdend auf mich. Ein Ende für das Gespräch zu finden war kein Problem. Hatte ich beim ersten Mal einen schlechten Tag gehabt, dass ich eine so freundliche Person so anstrengend fand? – Als Frau S. nach weiteren zwei oder drei Wochen wieder in die Sprechstunde kam, berichtete sie stolz von 1 kg Gewichtsabnahme. Sie hatte auch eine alte Jugendfreundin wieder getroffen und war mit ihr mehrmals im Kino. Mit der dementen Mutter hatte sie sogar über alte Zeiten gescherzt.
    Vier weitere Wochen später kam Frau S. aufgebracht und gleichzeitig kleinlaut (was oft bei mitteschwachen Menschen vorkommt) in die Praxis. Das Strohfeuer der Heilpflanzen war offenbar verpufft. Zusammengesunken berichtete sie über Stress im Büro, über Vorwürfe, weil sie Arbeit liegen gelassen habe. Man bestrafe sie mit Liebesentzug und sie hätte keine Lust mehr, in die Arbeit zu gehen. Je mehr sie verzweifelt berichtete, umso klarer wurde mir, dass ich Zeuge eines gewaltigen Behandlungsfortschrittes wurde.
    Frau S. hatte es gewagt, sich zu widersetzen!
    Die Reaktion der Kolleginnen, die ihre Privilegien schwinden sahen, waren der beste Beweis dafür, dass mithilfe der chinesischen Pflanzen die Mitte von Frau S. erstarkte und die eigenen Kräfte zunahmen. Es war nicht leicht, der Patientin diesen Behandlungserfolg zu erklären. Aber mein innerer Kompass sagte mir, dass die Geburtsstunde von Frau S. geschlagen hatte und dass sie angefangen hatte zu leben.
    Die Behandlung ging noch über zwei Jahre weiter. Langsam, aber sicher nahm Frau S. an Gewicht ab. Das Ekzem verschwand, die Blutwerte verbesserten sich. Es gab aber auch viele Rückschläge: Situationen, in denen sie zweifelte, ob sie überhaupt Nein sagen durfte und in denen ich ihr auch mentale Unterstützung gewähren musste. Doch je länger der Prozess dauerte, je mehr Dekokt sie getrunken hatte, aber auch je mehr sie begann, ihr Umfeld zu gestalten, desto weniger therapeutische Unterstützung war erforderlich. Nach etwa zwei Jahren hatte Frau S. 20 kg Gewicht abgespeckt – nicht eindrucksvoll, wenn man dieses quantitative Ergebnis mit dem von schnellen Crashdiäten vergleicht. Aber der psychotherapeutische Effekt dieser Behandlung trug weit über die Gewichtsreduktion hinaus und wurde zum Vorbild für viele weitere
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