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Das Geschenk des Osiris

Das Geschenk des Osiris

Titel: Das Geschenk des Osiris
Autoren: Anke Dietrich
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nicht nur der Sitz der Gedanken, des Wissens und der Erinnerungen. Es kam ihm auch eine ganze Reihe anderer wichtiger Funktionen zu. Es war durch Kanäle, den sogenannten Metu, mit allen anderen Organen im Körper verbunden. Die Metu führten Nahrung, Blut, Luft, Schleim, Samen und Ausscheidungen. Waren die Kanäle verstopft, kam es zu Krankheiten.
    Als Ramses kurz nach seinem sechsten Thronjubiläum plötzlich erkrankt war, hatte Sari ihn untersucht und die Diagnose gestellt: Eine Erkrankung, gegen die ich kämpfen werde. Der Heilkundige war sich darüber im Klaren gewesen, dass die Ursache nur mit den Essgewohnheiten seines königlichen Patienten im Zusammenhang stehen konnte. Deshalb hatte er Ramses eine strenge Diät verordnet, um die Verdauung wieder ordnungsgemäß in Gang zu bringen und die verstopften Kanäle zu reinigen.
    Nachdem diese Anordnung keine Verbesserung des Gesundheitszustands gebracht hatte, hatte Sari es mit verdauungsfördernden Arzneien versucht, um zum Schluss auf die altbekannten Zauberformeln zurückzugreifen. Doch auch das hatte nicht geholfen, und nun war er am Ende mit seinem Wissen. Das aber wollte er sich und der Königin nicht eingestehen.
    Er legte seine Hand auf die Stirn des Patienten, um zu fühlen, ob sie heiß oder kalt war. Dann nahm er vorsichtig Ramses ’ verkrampfte Hand von dessen Brust und legte sein Ohr auf die Stelle, wo sich das Herz befand. Es flatterte wie ein ängstlicher kleiner Vogel, zitterte, wurde schneller, dann wieder schwächer und langsamer. Bei all diesen Untersuchungen machte Sari ein zwar besorgtes, aber ungemein erfahrenes Gesicht, da er wusste, dass ihn Nubchesbed beobachtete.
    »Was gedenkst du zu tun?«, fragte sie ihn, und überrascht sah Sari vom Brustkorb seines Patienten auf.
    »Majestät, das Herz des Guten Gottes ist nicht mehr jung.« Bekümmert zuckte er mit den Schultern.
    »Das ist mir nicht neu. Auch mein Gemahl weiß das. Was aber wirst du dagegen tun?«
    Sari war unbehaglich zumute. Er war jetzt zweiundsechzig Jahre alt und hatte schon den Vater des Königs, Osiris Ramses III., behandelt, da dieser in ihm einen hervorragenden jungen Arzt gesehen hatte. Nun allerdings schien seine Laufbahn abrupt beendet zu sein.
    »Rede endlich und sage mir die Wahrheit!«, befahl Nubchesbed streng, und der Heilkundige zuckte zusammen.
    »Es tut mir leid, Majestät, es gibt kein Mittel, das den Pharao von seinem Leiden befreit. Es ist eine Krankheit, die ich nicht behandeln kann.« Er verneigte sich tief und erwartete seine Entlassung.
    Einen Moment lang war es still. Nur das gequälte Atmen des Königs war zu hören.
    »Also wird Pharao bald zu seinem göttlichen Vater gehen«, stellte Nubchesbed mit müder Stimme fest.
    Sari wusste, dass sie von ihm keine Bestätigung ihres Urteils erwartete, und schwieg. Still bewunderte er jedoch diese zierliche Frau, wie sie ihren Schmerz zu verbergen wusste.
    »Du kannst gehen!« Mit einer Handbewegung war er entlassen.
     
    * * *
     
    Der gesamte Hof schwirrte bereits von den unterschiedlichsten Gerüchten, als Amunhotep den Palastbezirk betrat.
    Es war nicht unbemerkt geblieben, dass der Oberste Arzt in den frühen Morgenstunden an das Bett des alternden Herrschers gerufen worden war. Die einen hatten gehört, dass Ramses schwer krank sei, andere wiederum, dass er bereits im Sterben läge. Jeder wollte etwas anderes aus sicherer Quelle erfahren haben. Das interessierte den hochgewachsenen Mann Mitte zwanzig jedoch nicht. Man hatte ihn gleich nach dem morgendlichen Ritual zum Mitregenten befohlen. Dennoch konnte er die Höflinge nicht übersehen, die in kleinen Grüppchen zusammenstanden und hinter vorgehaltener Hand dieses Ereignis erörterten.
    Schwätzer!, dachte er abfällig und wandte sich kopfschüttelnd in Richtung der prinzlichen Gemächer.
    Zügigen Schritts überquerte er den großen Innenhof, der sich zwischen Ramses ’ Palast und den Gemächern der Königin und denen des Mitregenten befand. Aus den Küchen war emsiges Treiben und unterdrücktes Stimmengewirr zu vernehmen. Es roch nach frisch gebackenen Broten und Kuchen, nach gebratenem Fleisch und würzigen Soßen.
    Dem Vorlesepriester lief das Wasser im Mund zusammen.
    Er strebte auf den Haupteingang der Gemächer des Mitregenten zu und ließ sich melden. Nach kurzer Zeit erschien Meres, der Haushofmeister des Prinzen, und verneigte sich vor ihm.
    »Seine Majestät ist noch nicht da, Hoher Herr. Er hat mir aufgetragen, dich in den Garten zu führen,
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