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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk
Autoren: Wolf Wondratschek
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davon verrät uns ein Schicksal? Man könnte sich auf dem Bett ausstrecken und Stunden mit der Suche nach Antworten zubringen. Gab es Anhaltspunkte, die Chuck hätten Aufschluß geben können, welche verborgenen Talente in seinem Sohn schlummerten? Was für Träume wird er träumen, und welche wann begraben? Kein Interesse an Zinnsoldaten – hatte das was zu bedeuten? Schaute unter Teppiche – auf der Suche nach was? Seine auffallende Ungeschicklichkeit, Bälle, die man ihm zuwarf, zu fangen, überhaupt seine geringe Begeisterung für jede Art von Ballspielen, wovon er sich nie erholen sollte, und auch später für Fußballspiele nie etwas übrig hatte, Indiz für was? Und seine ewig frierenden Hände? War die Begabung, glücklich sein zu können, ein Glücksfall?
    Im Hochsommer war ihm sein Sohn mit Strickmütze und einem dicken und viel zu weiten Pullover gegenübergesessen –und jetzt, in den ersten kühlen Herbsttagen, kam er angeradelt, in kurzen Hosen, mit nichts an als einem T-Shirt, auf dessen Vorderseite, schon etwas verwaschen, Hamlet ist tot zu lesen war.
    Warum ist er tot?
    Wer?
    Hamlet.
    Wer ist Hamlet?
    Ihm lief die Nase, und der Schweiß lief ihm runter, was ihn aber alles nicht störte. Es war die Autorität der Jahreszeiten nichts, was Jungs seines Alters interessierte. Sie hatten andere Körper, anderes Blut, andere Verabredungen untereinander. Erwachsene verstanden das nicht. Väter sind nie jung gewesen, nicht in den Augen ihrer Söhne; und das wenige, was jung geblieben war, erschien ihnen kindisch.
    Der Sohn lebte bei seiner Mutter, was nicht zu ändern war. Die Eltern redeten nicht mehr viel miteinander. Allenfalls etwas Schreckliches, ein Unglück, ein Schicksalsschlag, etwas mit dem Kind hätte sie veranlassen können, sich mitteilen zu wollen. Sie sprachen, wenn überhaupt und wenig originell, über nichts anderes als Geld, Geld, das Chuck zahlte, und das, was immer er zahlte, nie genug war. Aber gut, dachte Chuck, wenigstens vergesse ich so nicht ganz, welches verdienen zu müssen.
    Vorsicht, sagte sein Sohn, Achtung, nicht bewegen. Er selbst hielt die Luft an, spannte den Zeigefinger über dem Daumen und zielte. Aber die Fliege war schneller.
     
    Es gab Dinge, die nicht passieren sollten, eine Menge Dinge, wenn man erst einmal anfing, darüber nachzudenken,aber kein Geld zu haben gehörte nicht dazu. Es ließ Chuck kalt, knapp bei Kasse zu sein. Geld war ungefährlich, was ihn betraf.
    Eine Art Angeberei war es, die Chuck hin und wieder trotzdem unvorsichtig werden ließ, und irgendwann kriegte er die Sache nicht einmal mehr mit Humor in den Griff. Und ein Angeber war Chuck immer schon gewesen. Mit zehn Jahren hielt er sich für erwachsen genug, allem die Stirn zu bieten, was seiner Inspiration, ein freier Mensch zu sein, schaden könnte. Er beschloß – und bekräftigte den Entschluß, indem er es in Großbuchstaben in sein Tagebuch schrieb –, Erziehung einfach nicht mehr ernst zu nehmen, und Erzieher noch weniger. Komplette Ablehnung jeder Autorität, Tarzan und Sherlock Holmes und Donald Duck ausgenommen, deren Überlegenheit er respektierte. Es interessierte ihn nicht, was andere aus ihm machen wollten, was ihm derart zu Kopf stieg, daß seine Bemühungen, sich gegen Verbote zu behaupten (und was war ihm nicht verboten?), an Schwung zunahmen – was wiederum seine Mutter in ständige Alarmbereitschaft versetzte, die nicht wußte, wem sie sich mit der Frage, ob sie sich Sorgen um seine geistige Gesundheit machen mußte, anvertrauen konnte.
    Und sein Vater? Seit Chuck selbst Vater eines Sohnes war, mußte er ihm mildernde Umstände zubilligen. Das zumindest war er seinem alten Herrn schuldig, und bei Gelegenheit ein Besuch an seinem Grab. Er könnte einen Stuhl mitbringen und sich zu ihm setzen und mit ihm reden. Jetzt, wo er tot war, würde er zuhören müssen. Er würde ihn nicht einmal damit provozieren, daß er sich eine Zigarette genehmigte, ihn, der nie geraucht hatte.Er würde es sich einfach auf seinem Stuhl gemütlich machen, die Stille des Friedhofs und den Himmel darüber genießen, die Beine übereinanderschlagen und ein wenig von seinem Leben, vom Wichtigsten darin, erzählen, von seinem Sohn, von der ihn überraschenden Stärke seines Gefühls zu einem Kind, das zu haben er sich nie hatte vorstellen wollen, auch wenn das den Toten vielleicht gar nicht besonders interessierte und er lieber etwas anderes hören würde, etwas von der Zukunft der bemannten Raumfahrt,
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