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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk
Autoren: Wolf Wondratschek
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kann, trotzdem zu einer Rauferei kommt, Augen auf, nicht die Übersicht verlieren und keine Angst zeigen, das Gewicht richtig verlagern, alles in den Schlag legen, was du an Kilos an Körpergewicht hast. Chuck war Boxfan, vom Boxen sprach er gern. Da war er ganz in seinem Element. Er verstand nicht, wie man einen Boxkampf, das Boxen ganz allgemein, als widerwärtig abtun konnte, als primitives, blutrünstiges Spektakel. Er liebte es, wie es war, grandios, gefährlich und, ja, auch das, widerwärtig und ungerecht. Die Leute hinter den Kulissen waren oft genug Gauner, und die Drahtzieher skrupellose Verbrecher. Eine Welt,in der, wie auf den Bühnen der großen Theater, die Schurken den Helden die Hauptrolle streitig machen und der Tod das letzte Wort spricht. Eines Tages werden sie einen Blues für Boxer schreiben. Es wird ein Song sein für eine langsame Gitarre, weiche Trompetentöne und eine Glocke. Aber die schlug nicht mehr für die nächste Runde, sondern für die Ewigkeit.
    Man kam um ein paar schreckliche Wahrheiten nicht herum, wenn man sich auf diese Sache einließ, aber was war gegen ein bißchen Bewegung einzuwenden, gegen das Kämpfen nach Regeln, fair, Mann gegen Mann? Du solltest, riet er seinem Sohn, Sport treiben. Ich kenn da zum Beispiel einen Box-Klub, ganz in der Nähe. Wie wär's?
    Er schüttelte den Kopf.
    Nein? Lernen, wie man einen sauberen linken Haken schlägt? Keine Lust?
    Nicht unbedingt!
    Du glaubst gar nicht, wie gut das tut, mal richtig Dampf abzulassen.
    Doch, schon, sagte er, glaub ich. Man kann einen Satz nicht mit weniger Begeisterung von sich geben. Und so sah auch sein Gesicht aus.
    Eine schöne linke Gerade schlagen, sagte Chuck, eine schöne ehrliche saubere linke Gerade. Sollte man eigentlich in der Schule lernen. Er war, wenn er vom Boxen sprach, wie verwandelt. Er kriegte richtig gute Laune davon. Er stand auf und bewegte sich, um ihm die Sache zu zeigen, wie ein Boxer. Und links, und links, und links flog die Faust nach vorne. Und die Rechte hoch halten, immer schön am Kinn halten. Es schien ihm Spaß zu machen,wenigstens ihm. Und wenn du fünf Jahre um die Welt gesegelt bist und nach Hause kommst, mag sich vieles geändert haben, aber eine linke Gerade sieht immer noch so aus wie immer.
    Chuck war ganz schön aus der Puste, als er sich wieder hinsetzte und seinen Sohn anschaute. Er wartete auf eine Reaktion. Er wartete auf ein Lebenszeichen.
    Es war aussichtslos. Er war nicht munter zu kriegen. Er wollte allein älter werden und Dinge, auf die es ankam, selbst herausfinden. Es war sein Recht. Er respektierte seinen Vater, soweit es in seinen Kräften stand, das schon, aber es ging wohl entschieden über seine Kräfte, sich jedesmal, wenn er bei ihm vorbeischaute, in voller jugendlicher Blüte und hellwach und gesprächig präsentieren zu müssen. Warum zum Teufel sollte er sich den Kopf zerbrechen über Geld oder sich, das auch noch, einen Kinnhaken verpassen oder die Nase platt schlagen lassen? Und das mit dem Alleinsein, was war so schlimm daran? Eine sturmfreie Bude hatte mehr Vorteile, als sich ein von Gewissensbissen geplagter Vater einzugestehen bereit war. Und auf irgendwelche gönnerhaften Predigten darüber hatte er schon überhaupt keine Lust. Armer kleiner Junge? Von wegen! Lieber langweilte er sich. Sich zu langweilen war weniger langweilig als immer etwas tun, etwas unternehmen, jeden Tag in einem Buch lesen zu müssen.
    Sein Sohn war vierzehn, was weiter kein Problem war, solange man nicht vorhatte, mit Vierzehnjährigen ein Gespräch führen zu wollen. Sie reagieren kaum. Was sie sagen, wenn sie überhaupt reden, fällt ihrer Stimmung zum Opfer, ihren Launen, ihrer Müdigkeit. Müde, das sind sie am liebsten, zum Zuhören zu müde und zumAntworten; zu müde sogar, sich stichhaltige Ausreden auszudenken für die Menge an Müdigkeit, das Ausmaß ihrer großen, tiefen Erschöpfung, in die sie sich wie in eine Höhle verkriechen. Zutritt für Erwachsene verboten! Es ist, als wollten sie jeden von ihnen warnen, sich einzumischen. Die Müdigkeit rieb ihnen die Knochen warm. Die Wärme kitzelte die Beine, die Arme und Schultern und erzeugte ein Wohlgefühl, das ihnen den Körper füllte, sich über dessen Abmessungen hinweg ausdehnte bis zu einem Punkt, wo es unmöglich war, ein Gähnen zu unterdrücken, ein großes glückliches, geradezu ungehorsam glückliches Gähnen, das sich gut mit geschlossenen Augen genießen und, wenn man es hinter sich hatte, alle
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