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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk
Autoren: Wolf Wondratschek
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trauriger die Lieder, die du spielst, um so schneller hast du sie. Menschen werden, wenn sie traurig sind, ungefährlich, überall auf der Welt; was dort, wo man ein Fremder ist, viel ist. Es gibt Dinge, die sich nie ändern. Keine Lust, eine neue aufzuziehen?
    Was?
    Du gehst morgen in ein Geschäft, kaufst dir eine Gitarrensaite und ziehst sie auf.
    Na ja, sagte er und machte ein Gesicht, als habe der Vater ihm Hausarrest oder, noch schlimmer, einen anständigen Haarschnitt angedroht.
    Na ja? Ist das alles?
    Vielleicht, mal sehn, sagte er und schaute auf die Uhr. Übrigens, fiel ihm ein, was war mit der verdammten Fliege, die er abschießen wollte? Wo war sie, wo?
    Er steckte das Spiel Karten weg, lehnte sich zurück und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Wie langweilig alles war! Oder nicht? Oder etwa nicht?
    Mexiko! Mädchen! Gitarrensaiten! Was war los, was war damit? Wie groß die Welt war, würde er, wenn es soweit war, eines Tages schon selbst herausfinden. Er machte sich darüber so wenig Gedanken wie darüber, eines Tages sterben zu müssen. Es brachte ihn zur Verzweiflung, nicht einfach über nichts nachdenken zu dürfen, über nichts reden, über nichts Auskunft geben zu müssen, was für den Sohn auch der Grund war, in jedem, der mit ihm sprach, einen zu sehen, der Streit mit ihm suchte. Er mochte es auch nicht, wenn irgendwer, am wenigsten der eigene Vater, wenn auch gut gemeint, sich in der Rolle des weisen alten abgeklärten Cowboys gefiel. Er hatte dann immer den Wunsch, in genau die entgegengesetzte Richtung laufen zu wollen.
    Chuck fragte sich, ob sein Sohn, selbst wenn er ihm antwortete und ihn anschaute, seine Anwesenheit überhaupt wahrnahm.
    Es war diese Art Gleichgültigkeit, die Eltern halbwüchsigerKinder verrückt machen kann, und in aller Regel auch verrückt macht. Es kostet, egal wie man darauf reagiert, Nerven, vor allem die Aussicht, in diesem Kampf der Unterlegene zu sein. Kinder sind sich ihrer Sache sicher, was sie unangreifbar, unbesiegbar macht. Sie haben nichts übrig für Weisheiten. Und nichts für Sentimentalitäten. Das alles läßt sie kalt. Aber Chucks Ärger darüber war nur die eine Sache; die andere war, die Tapferkeit anzuerkennen, mit der Jungs in seinem Alter ihr Territorium verteidigten. Es war, als wollten sie sagen (und irgendwann sagen sie es dann tatsächlich, stehen vom Tisch auf, sagen es, gehen ab und knallen die Tür hinter sich zu!): Glaub nicht, daß es genügt, früh aufzustehen! Das ist unwichtig. Steh nur auf, wenn es für dich ist! Und wenn es nicht zu umständlich wäre, darüber überhaupt mit Erwachsenen zu reden, wäre auch noch folgender Satz fällig: Ich muß nicht deine, sondern meine Erwartungen erfüllen!
    Und noch etwas gab es, etwas Drittes. Der Junge kannte das Gefühl nicht, eine Familie zu haben. Da war nie was. Da war nichts, was wie ein Nest war. Er war den ganzen Tag weitgehend sich selbst überlassen. Seine Mutter war kaum da, sie mußte schließlich arbeiten gehen, und kam danach auch nicht immer gleich nach Hause, und wenn, war sie müde. Und auch Chuck war eigentlich nie da – und, wenn er sie besuchen kam, alles andere als ein gern gesehener Gast. Er hatte, weil er einmal aus Wut zumindest einen ihrer zwei Fernseher aus der Wohnung, einer Zwei-Zimmer-Wohnung, entfernen wollte – er hatte sogar damit gedroht, ihn aus dem Fenster schmeißen zu wollen –, eine Zeitlang sogar Hausverbot, was er, nachdemdann nur der nächstbeste Gegenstand, eine schwer mit Münzen in verschiedenen Währungen gefüllte Blechdose, hatte dran glauben müssen, als scharfes, aber gerechtes Urteil akzeptiert hatte. Er war nie da, wenn sein Sohn einen Vater brauchte, auch wenn er nur Streit suchte, wenn er sich wehren und bestätigen, wenn er kämpfen wollte, einfach so, einfach zum Ausprobieren. Es gab, weil keiner, nicht mal ein Bruder, da war, auch sonst keinen Widerstand, es gab die Wand nicht, die ein Kind, um erwachsen zu werden, einreißen muß. Was waren Geheimnisse wert, die man vor niemandem schützen mußte? Die Zimmer waren, wenn er in ihnen herumging, leer. Es gab auch keine Haustiere mehr. Den Anfang hatten, da war er zehn, zwei Hausratten gemacht, die eingingen, noch bevor er sich Namen für sie ausdenken konnte. Es wurden zwei neue angeschafft, von denen das eine Tier von einem unachtsamen Besucher, einem überaus hartnäckigen Verehrer seiner Mutter, zertreten wurde (absichtlich, wie sein Sohn bis heute behauptete). Das einsame
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