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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen
Autoren: Rafik Schami
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zivilisiert werden.
    Nein, mit lateinischen Buchstaben lösen wir kein einziges Problem unserer Sprache, sondern schaffen eher neue«, sagte der Minister. »Das Haus der Sprache ist würdig und alt. Irgendjemand muss mit der Renovierung anfangen, bevor es zusammenbricht. Und lassen Sie sich nicht damit erpressen, dass sich die arabische Sprache nicht verändert. Nur tote Sprachen lassen sich von der Zeit nicht beeindrucken.
    Ich denke, es gebührt Damaskus die Ehre, den ersten ernsthaften Schritt zur Reform zu tun. Ab nächstem Schuljahr sollten alle Schüler in Syrien nur achtundzwanzig Buchstaben als Alphabet lernen. Der vorletzte Buchstabe LA ist keiner. Er ist ein über tausenddreihundert Jahre alter Irrtum . Der Prophet Muhammad war ein Mensch, und niemand außer Gott ist fehlerfrei. Deshalb aber müssen wir unsere Kinder nicht bereits beim Lernen des Alphabets zwingen, der Logik abzuschwören und Falsches für Wahres zu betrachten. Es sind achtundzwanzig Buchstaben. Das ist nur eine kleine Korrektur, aber sie geht in die richtige Richtung.«
    Ein Raunen ging durch die Versammlung. Hamids Herz hätte vor Freude fliegen können. Sati’ al Husri lächelte vielsagend. Der Minister gewährte seinen Zuhörern Zeit. Als hätte er, wie ein Theaterregisseur in einem gut durchdachten Stück, an alles gedacht, ging bei den letzten Worten die Saaltür auf, Bedienstete des Ministeriums trugen Tee und Gebäck herbei.
    Alle Anwesenden wussten, wovon der Minister sprach. Und der Tee war richtig, um ihre trockenen Kehlen anzufeuchten.
    Viele Legenden bildeten sich um diesen Buchstaben LA . Nach der bekanntesten Anekdote fragte ein Mitkämpfer der ersten Stunde den Propheten, wie viel Buchstaben Gott Adam gab, der Prophet antwortete neunundzwanzig. Der gelehrte Weggefährte korrigierte höflich, er habe aber in der arabischen Sprache nur achtundzwanzig Buchstabengefunden. Der Prophet wiederholte, es seien neunundzwanzig, doch der Freund zählte noch einmal nach und erwiderte, es seien nur achtundzwanzig. Da bekam der Prophet rote Augen vor Zorn und sagte dem Mann: »Gott hat Adam aber neunundzwanzig arabische Buchstaben gegeben. Siebzigtausend Engel wohnten dem bei. Der neunundzwanzigste Buchstabe ist LA .«
    Alle Freunde des Propheten wussten, dass er sich geirrt hatte, La ist ein Wort und besteht aus zwei Buchstaben, es bedeutet »nein«. Aber nicht nur die Freunde des Propheten, tausende von Gelehrten und unzählige Menschen, die des Lesens mächtig waren, schwiegen über tausenddreihundert Jahre lang und lehrten ihre Kinder ein Alphabet mit einem überflüssigen und dazu falschen, weil zusammengesetzten Buchstaben.
    »Mein Ziel ist es«, fuhr der Minister fort, »syrische Kinder zu erziehen, die nichts lernen sollen, was sie nicht zur Wahrheit führt. Wie wir das erreichen, ist unsere Sache. Der Prophet selbst war ein Vorbild: ›Sucht das Wissen und wenn es in China sein sollte‹, sagte er mit Recht.«
    Er wandte sich an Hamid: »Und von Ihnen, meinem Lieblingskalligraphen Hamid Farsi, erwarte ich Großes. Durch die Kalligraphie passiert Eigenartiges. Sie wurde erfunden, um die Schrift, die Zeichen der Sprache, auf Papier zu verehren, und doch vernichtet sie die Sprache, indem sie sie unleserlich macht. Die Schriftzeichen verlieren ihre Funktion als Gedanken überliefernde Zeichen und verwandeln sich in reine Dekorationselemente. Dagegen habe ich nichts, wenn dies als Fries oder Arabeske auf Wänden, Teppichen oder auch Vasen steht, aber in Büchern haben solche Schnörkel nichts verloren. Vor allem die Kufi-Schrift lehne ich ab.«
    Hamid hätte aufspringen können vor Freude. Er konnte die Kufi-Schrift nicht ausstehen. Er war fasziniert von der Stimmung, die der Minister bei den Experten erzeugt hatte, und gerührt, als der Minister ihn in der Pause zu sich winkte.
    »Von Ihnen erwarte ich die größte Unterstützung. Sie müssen sich in die Gestaltung der Sprachbücher einmischen. Kalligraphen sind die wahren Sprachmeister. Erfinden Sie oder reformieren Sie eine Schrift,die das Lesen erleichtert und nicht erschwert, wie die Schriften, die die Kalligraphen bisher gepflegt haben.«
     
    Hamid hatte bereits mehrere Alternativen entwickelt. Er suchte bald den Minister auf, der immer Zeit für ihn zu haben schien und mit ihm Tee trank, während sie gemeinsam die Stile verglichen und die Proben in verschiedener Buchstabengröße lasen. Nach vier Sitzungen hatten sie sich auf die Schriftarten geeinigt, mit denen die
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