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Das Geheimnis des Feuers

Das Geheimnis des Feuers

Titel: Das Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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Schule gehen durften? Dann, dachte Sofia, war es nicht nur schlecht, dass sie zur Flucht gezwungen worden waren. Dann gab es wenigstens etwas daran, was gut war. Sie hatte das Meer gesehen. Vielleicht durfte sie zur Schule gehen. Das würde niemals ausgleichen, dass Hapakatanda, Muazena und ihre Geschwister tot waren. Das würde nicht einmal ausgleichen, dass die Banditen auch ihre Hunde umgebracht hatten. Trotzdem war es etwas.
    »Alfredo«, sagte Maria plötzlich und sprang auf. Lydia hatte Angst, er könnte im Fluss ertrinken oder von einem Krokodil gefressen werden. Sie hatte auch Angst, er könnte von einer Schlange gebissen werden. Sie stürzten ums Haus herum. Dann konnten sie aufatmen. Alfredo war an der Hauswand eingeschlafen. Der Wind blies ihm die staubige Erde ins Gesicht. Im Schlaf wedelte er eine Fliege weg, die in seine Nase hineinzukriechen versuchte.
    An diesem Abend erzählten sie Lydia, was sie von Lino erfahren hatten. Lydia war spät am Nachmittag zurückgekommen und in der einen Hand hatte sie ein Stück Seife. Zuerst gingen sie hinunter zum Fluss und wuschen sich. Während zwei nach Krokodilen Ausschau hielten, wusch sich die Dritte. So wechselten sie sich ab.
    Lydia war guter Laune, sie stand halb nackt im Wasser und wusch sich und sang. »Wir reden heute Abend mit ihr«, sagte Maria. »Wenn sie singt, ist sie guter Laune. Aber du musst fragen.«
    »Ich«, sagte Sofia erschrocken. »Du bist doch die Älteste.«
    »Du kannst am besten reden«, sagte Maria. »Wenn ich also die Älteste bin, bestimme ich, dass du Mama fragst.«
    Sie saßen um die Schüsseln mit Maisbrei und Salatblättern in der Dämmerung, nahmen sich mit den Fingern und aßen schweigend. Maria sah Sofia an und runzelte die Stirn. Das hieß, sie sollte jetzt anfangen zu reden. Mama Lydia saß niemals unnötig still und untätig herum. Nach dem Essen würde sie sofort mit den Vorbereitungen für die Nacht beginnen, die dünnen Decken aufrollen, auf denen sie lagen, und die Capulanas darüber breiten, mit denen sie sich zudeckten.
    »Es gibt hier eine Schule«, sagte Sofia. »Die ist kostenlos. Dort kann man lesen, schreiben und rechnen lernen. Die Schule ist immer nachmittags.«
    Lydia sah sie erstaunt an. »Warum erzählst du mir das?«, fragte sie. Sofia schloss die Augen und nahm in Gedanken Anlauf. Etwas Schweres zu fragen war genauso, wie wenn man einen weiten Sprung versuchen wollte.
    »Maria und ich möchten gern in die Schule gehen«, sagte sie. Lydia kaute, was sie im Mund hatte, und wischte sich die Finger ab, ehe sie antwortete.
    »Ihr braucht euch nicht die Mühe machen, in die Schule zu gehen«, sagte sie. »Ihr arbeitet schon so viel draußen auf den Maisfeldern. Ich möchte euch nicht zwingen etwas zu tun, was ihr nicht tun müsst.«
    »Aber wir möchten es gern«, sagte Sofia. Lydia sah sie immer noch verwundert an und dann auch Maria, ehe sie antwortete.
    »Man muss nicht lesen und schreiben können um Unkraut zu jäten«, sagte sie. »Man braucht nicht rechnen zu können um die Erde aufzuhacken und Samen zu säen.«
    Plötzlich wusste Sofia nicht mehr, was sie sagen sollte. Wie konnte sie ihre Mutter dazu bringen einzusehen, dass sie etwas anderes wollten? Dass sie lesen können wollten, was auf einem Schild geschrieben stand, oder ihren eigenen Namen schreiben können.
    »Der weiße Pfarrer möchte, dass alle Kinder in die Schule gehen«, sagte sie schließlich. »Vielleicht müssen wir ihm gehorchen.«
    Sofia wusste, dass ihre Mutter großen Respekt vor weißen Menschen hatte. Das galt für alle in dem Dorf, in dem sie früher gewohnt hatten. Wenn ein weißer Mann oder eine weiße Frau etwas sagte, musste man genau zuhören. Warum das so war, wusste Sofia nicht. Einmal hatten die Weißen in ihrem Land zu bestimmen gehabt. Aber so war es nicht mehr. Die Einzige, die sich nicht um die Weißen gekümmert hatte, war Muazena gewesen. Bei den Gelegenheiten, wenn weiße Menschen ihr Dorf besuchten, hatte sie sich am liebsten in ihrer Hütte eingeschlossen und war erst wieder hervorgekommen, wenn sie fort waren.
    »Wenn das so ist, müsst ihr natürlich in die Schule«, sagte Lydia. »Aber dann müssen wir eure Kleider flicken. Ich will nicht, dass meine Töchter mit zerrissenen Kleidern herumlaufen.« Maria und Sofia beugten sich vor und berührten Lydias kräftige Arme mit ihren Händen. Das war ein Zeichen, dass sie sich sehr freuten. Erst hinterher, als Lydia hineingegangen war um das Nachtlager zu bereiten,
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