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Das Geheimnis des Feuers

Das Geheimnis des Feuers

Titel: Das Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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liefen sie hinter die Hütte. Sie hielten einander an den Händen und begannen zu tanzen, zum Rhythmus der Trommeln, die von weit her erklangen. Es war schon so dunkel, dass sie einander kaum noch sehen konnten. Aber Freude war etwas, das musste man nicht sehen können, um sie zu verstehen oder mit jemand anderem zu teilen. Genauso wenig wie Trauer und Schmerz.
    Das hatten sie gelernt. Es gab nichts, was sie so gern mochten wie Tanzen. Und der schönste Tanz von allen, das war der Freudentanz. Niemand hatte ihnen jemals Tanzen beigebracht, das hatten sie schon immer gekonnt. Sofia dachte, es habe angefangen, als sie noch so klein war, dass sie noch nicht laufen konnte und auf Mama Lydias Rücken festgebunden war. Wenn Lydia mit den anderen Frauen getanzt hatte, hatten sich die Bewegungen und der Rhythmus auf Sofias Körper übertragen. Seitdem gab es ihn dort. Bei Maria war es dasselbe. Sie tanzten, bis Lydia aus der Hütte kam und nach ihnen rief, sie sollten hereinkommen und sich schlafen legen. Später, als Lydia und Alfredo eingeschlafen waren, lagen sie noch lange wach und flüsterten miteinander. »Wenn wir aber nun zu dumm sind«, sagte Maria. »Wir können doch nichts anderes als in der Erde hacken.«
    »Ich glaube nicht, dass wir dümmer als andere sind«, sagte Sofia und versuchte ihre Stimme überzeugend klingen zu lassen. Aber im tiefsten Innern hatte auch sie Bedenken.
    Früh am Morgen des nächsten Tages, bevor sie hinaus auf die Äcker zum Arbeiten gingen, saßen sie zusammen mit Lydia und flickten ihre Kleider. Lydia schüttelte erschöpft den Kopf. »Besser wird es nicht«, sagte sie. »Ich muss mehr Körbe machen, die ich verkaufen kann. Ihr braucht beide neue Kleider.« Am nächsten Tag gingen Maria und Sofia in die Schule. Sie hatten einander bei den Händen gefasst und ihre Schritte wurden immer langsamer, je näher sie der Schule kamen. Es war ein längliches Gebäude aus Zement, Eidechsen krochen aus und ein in den Fugen, es gab keine Fenster, nur ein Blechdach auf einem hohen Holzbogen. Lino kam ihnen entgegengelaufen, als er bemerkte, dass sie auf dem Weg stehen geblieben waren und sich offenbar nicht näher herantrauten.
    »Ihr müsst mit José-Maria sprechen«, sagte er.
    »Wer ist das?«, fragte Sofia.
    »Der Pfarrer«, antwortete Lino erstaunt. »Und ihr müsst mit Philomena sprechen, der Lehrerin.«
    Er begleitete sie zu dem einen Ende des langen Schulgebäudes. Dort war ein kleines Büro.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte Sofia. »Wisst ihr denn gar nichts?«, sagte Lino. »Ihr klopft an die Tür und tretet ein, wenn euch jemand auffordert.« Dann lief er davon. Die Jungen spielten Fußball mit einem Ball, der aus fest zusammengepressten Grashalmen gemacht war.
    »Wir gehen nach Hause«, sagte Maria.
    »Das tun wir auf keinen Fall«, sagte Sofia. Dann klopfte sie an die Tür. Niemand rief. Sie klopfte noch einmal. Da wurde die Tür geöffnet. Der weiße Mann, der sie früher schon mit seinem traurigen Lächeln angesehen hatte, stand in der Türöffnung. Sein Gesicht war schweißbedeckt und die Brille hatte er auf die Stirn geschoben.
    »Wir möchten in die Schule gehen«, sagte Sofia.
    Der weiße Mann schob die Brille auf die Nase. »Ich erinnere mich an euch«, sagte er. »Seltsam, wie ähnlich ihr euch seht. Seid ihr Zwillinge?«
    »Ich bin Sofia«, sagte Sofia. »Maria ist Maria. Zwischen uns ist ein Jahr. Maria ist die Älteste.«
    »Wie heißt ihr weiter?«
    »Alface.« (Alface heißt Salat.) Der weiße Mann betrachtete sie erstaunt. Dann brach er in Gelächter aus. »Das ist ein guter Name«, sagte er. »Sofia und Maria Alface. Seid ihr schon mal in eine Schule gegangen?« Sie schüttelten die Köpfe. »Dann kommt ihr in Philomenas Klasse. Ich bringe euch hin.«
    Sie gingen zu dem Klassenzimmer ganz am Ende des Gebäudes. Der Unterricht hatte gerade begonnen. Die Lehrerin, die Philomena hieß, war jung. Außerdem war sie schwarz. »Noch zwei Schüler«, sagte José-Maria. »Sofia und Maria. Wie viele hast du jetzt?«
    »Als ich das letzte Mal gezählt habe, waren es zweiundneunzig«, sagte Philomena. »Wenn vier auf einer Bank sitzen, geht es.« José-Maria schüttelte den Kopf. »Wir müssen eine größere Schule bauen«, sagte er. »Aber woher kriegen wir das Geld?« Dann ging er. Sofia und Maria standen mit niedergeschlagenen Augen da. Alle Kinder in der Klasse sahen sie an.
    »Seid ihr Zwillinge?«, fragte Philomena und lächelte sie an. Sofia schüttelte den Kopf. Ihr Mund
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