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Das Geheimnis des Falken

Titel: Das Geheimnis des Falken
Autoren: Daphne DuMaurier
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Gipfel meiner Angst angelangt zu sein. Nichts, weder der drohende Straßenkampf noch der große Sturz konnte schlimmer sein als diese Sekunde auf dem Punkt Null.
    Ich schaute Aldo an. Er war blaß. Er war immer blaß, aber diesmal stand hinter seiner Blässe eine Erregung, wie ich sie noch nie an ihm beobachtet hatte. Das Lächeln in seinen Mundwinkeln glich einer Grimasse.
    »Soll ich beten?« fragte ich.
    »Wenn das die Angst in deinen Eingeweiden beschwichtigt, würde ich es tun«, antwortete er. »Aber das einzig zulässige Gebet ist ein Gebet um Courage.«
    Keines der Gebete meiner Kinderzeit eignete sich für die Gelegenheit, weder das Paternoster noch das Ave Maria. Ich dachte an die vielen Millionen Menschen, die zu Gott gebetet hatten und gestorben waren.
    »Es ist zu spät«, sagte ich. »Courage habe ich ohnehin nie besessen. Ich muß mich auf deine verlassen.«
    Er lachte und trieb die Pferde durch einen Zuruf an. Sie verfielen in Trab, dann in einen Galopp, der immer schneller wurde. Die umhüllten Hufe klopften dumpf auf den harten Grund.
    Die Menge um uns herum brach beim Anblick des galoppierenden Zuges erneut in einen Beifallssturm aus. Die Häuser der Via Carlo hatten die Fenster weit offen. Ein jedes war schwarz von Zuschauern. Der Schrei von der Piazza, die nun hinter uns lag, wurde durch die Menschen aufgenommen, die an den Fenstern warteten.
    Für einen kurzen Augenblick sah ich vom höchsten Punkt des nördlichen Hügels das ganze Panorama der Stadt vor mir ausgebreitet, Dachfirste, Kirchen, Türme, und in der Ferne, die südliche Höhe krönend, den Dom und den Palazzo Ducale. Dann tat sich die Via Carlo unter uns auf wie der Weg zur Hölle. Und während sich die Straße verengte und zu winden begann, während die Spitzenpferde die Kurven nahmen, schienen sich die Häuser, zerbrechlich, wie Pappfiguren an ihren Hängen klebend, über uns zu neigen, mit aufgerissenen Fenstern, und aus jedem Fenster schossen Gesichter, klangen Schreie, überall wurde Lärm zum Aufruhr.
    Hier gab es keine Polizeikordons, keine Uniformen. Die Straße gehörte uns ganz allein, und als sie sich noch weiter verengte, bevor sie im Zentrum der Stadt in die Piazza Matrice auslief, rasten die Außenpferde der seitlichen Fünfergespanne haarscharf an den Häusern entlang. Ein Hindernis, eins der acht Spitzenpferde, das zu scheuen begann, und es würde alle anderen mitreißen! Die Tiere würden übereinander stürzen in einem grässlichen Knäuel des Verderbens, und wir würden uns mitsamt unserem Wagen überschlagen und in diesem Knäuel begraben sein.
    Wieder bildete die Straße eine Kurve und verengte sich noch weiter. Und während wir immer weiter in die Tiefe tauchten, dem Herzen der Stadt entgegen, war ich mir des rasenden Tempos plötzlich gar nicht mehr bewußt, noch der Stimme von Aldo, der die Pferde anfeuerte, noch des schlingernden, schwankenden Schlittens, auf dem ich stand. Ich wurde nur die Gesichter gewahr, die dicht an dicht und voller Entsetzen aus allen Fenstern starrten, die aufgellenden Schreie, als unser halsbrecherisches Tempo sich noch steigerte, den Geruch von Pferdeschweiß in meiner Nase und meine brennenden Hände, die sich an das Geländer des Wagens klammerten.
    Von links schwamm die Kirche San Cipriano in meinen Gesichtskreis hinein. Auf der Treppe schreiende Studenten, und weitere Studentenmassen in den Seitenstraßen. Dann donnerten wir zur Piazza Matrice hinunter, vorbei an den Kolonnaden, die dick mit Zuschauern bestückt waren, vorbei an Fenstern, aus denen gestikulierende Arme züngelten, aufgerissene Münder kreischten. Die Pferde, wieder auf ebenem Gelände, zogen erneut an, rasten auf die Via Vittorio Emanuele am anderen Ende der Piazza zu und weiter den Hang hinauf zum Palazzo Ducale, angespornt von ihrem eigenen Impetus, ihrem Willen zur Schnelligkeit und inzwischen außer Rand und Band auch durch das Crescendo des Beifalls.
    Ich blickte zurück und sah die Studenten aus den Seitenstraßen auf die Piazza stürzen, sich aus den Fenstern schwingen, aus den Türen brechen, sich auf den Platz ergießen und ihn, wie eine riesige Flutwelle, im Nu in Besitz nehmen. Und statt des empörten Gebrülls, auf das ich wartete, statt Steinhagel und Stahlgeklirr, statt des Ausbruchs aufgestauter Hassgefühle, des Zusammenstoßes der feindlichen Parteien, begannen sie hinter uns den Hang hinaufzuschwärmen, rufend, winkend, und im Laufen schrien sie immer wieder: »Donati … Donati … evviva
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