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Das Geheimnis der toten Voegel

Das Geheimnis der toten Voegel

Titel: Das Geheimnis der toten Voegel
Autoren: Anna Jansson
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gelaufen. Die Schleppe an ihrem dünnen Kleid wurde eins mit dem Schaum der Wellen, und das lange Haar war aus Morgenlicht gesponnen. In den smaragdgrünen Augen glänzte das Meer. Sie hielt eine weiße Jungtaube in ihren Händen und ließ sie zum Himmel auffliegen. Komm. Sie streckte ihm die Arme entgegen. Komm jetzt. Ihr Lächeln war genauso verlockend, wie er es von jenem schicksalsschweren Mittsommerabend her in Erinnerung hatte. Komm, auch du kannst auf dem Wasser gehen. Aber er drehte dem Meer den Rücken zu und sah sie nicht mehr. Und sie kam wie eine Dunkelheit, wie ein Sturm übers Land. Die Bäume bogen sich. Die Schilfhalme wurden auf die Erde gedrückt, die Vögel verstummten, und die Blitze sprühten wie ein Feuerwerk zwischen den Wolken. Aber er weigerte sich, auf sie zu hören, er schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Da kam sie wie ein Duft. Wie wehrt man sich gegen einen Duft, der Erinnerungen hervorlockt?
    Als Ruben erwachte, merkte er, dass er geweint hatte. Er verspürte die Sehnsucht nach Angela in seinem ganzen Körper, es tat weh, zog und stach im Bauch. Angela. Angela. Wie konnte eine Sehnsucht plötzlich so groß werden? Im Traum hatte sie eine weiße Taube gehalten. Er sah immer noch vor sich, wie ihre Hände mit den kurzen, etwas knubbeligen Daumen die verletzte Taube festgehalten hatten, die der Habicht erwischt hatte, damals, in einer anderen Zeit, als alles noch möglich gewesen war. Es war eine ihrer ersten Begegnungen gewesen. Sie hatte mit ihren kleinen Händen über den Rücken der Taube gestrichen. Du armes Ding. Wir werden uns um dich kümmern, hatte sie gesagt. Während Angela die Taube mit Brei fütterte und sie ins weichste Heu bettete, hatte, hatte Ruben seine Schrotflinte geladen und dem Taubenhabicht aufgelauert, der hoch über dem Schlag seine Kreise drehte. Mit dem Finger am Abzug gewartet, bis sich der Raubvogel in der Tanne neben dem Schuppen niederließ. Dann die Schrotladung abgefeuert. Der Habicht war tot zu Boden gefallen. Triumphierend hatte er den Räuber bei den Beinen gepackt und ihn auf den Küchentisch geworfen, damit Angela sehen konnte, dass der Schuldige seine Strafe erhalten hatte. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Aber genau das tat sie. Wie konntest du nur? Wie konntest du ihn einfach erschießen? Mit hängenden Armen hatte er in der Küche gestanden, ohne etwas zu seiner Verteidigung vorbringen zu können. Der einzige Laut, den man hörte, war das Sirren einer Fliege gewesen, die auf dem Leimstreifen, der von der Küchenlampe herunterhing, festklebte, und dieses Sirren bohrte so lange in seinem Kopf, bis völlige Gedankenleere herrschte.
     
    Sobald die Bibliothek öffnete, machte sich Ruben dorthin auf. Wieder zu Hause trank er seinen Vormittagskaffee, während er den Wetterbericht anhörte. Danach ging er in den Taubenschlag, um nach der neuen Taube zu sehen. Der Vogel hatte nach dem Flug müde und mitgenommen gewirkt. Seine Augen waren ein wenig matt gewesen. Kein Wunder, wenn er so weit geflogen war. Aber eine körperlich so kräftige Taube sollte heute wieder voll bei Kräften sein. Als Zuchttaube war das ein richtiges Prachtexemplar. Cederroth würde grün vor Neid werden. Man stelle sich mal vor, die Taube war den ganzen weiten Weg aus Bjaroza in Weißrussland gekommen. Ruben hatte mit Hilfe der Bibliothekarin im Internet gesucht, um eine Liste der Landesbezeichnungen und der Namen der verschiedenen Brieftaubenvereine im jeweiligen Land zu finden, und am Ende hatten sie herausgefunden, woher die Taube kam. Ein Weißrusse. Er hatte sie als zugeflogen angezeigt. Wenn sich kein Besitzer meldete, dann würde sie wohl bleiben können. Darauf hoffte er.
    Ganz in Gedanken stieg Ruben die Treppe zu seinem Taubenschlag hinauf, und noch mehr in Gedanken versunken kam er wieder heraus. Der fremde Vogel hatte tot auf dem Steinfußboden unter dem Fenster gelegen. Im Licht der Dämmerung hatte das Tier in seinem Federkleid fast grau ausgesehen. Es schien nicht verletzt zu sein. Es wäre ja möglich gewesen, dass die anderen Vögel ihn im Kampf um Futter und Weibchen angegriffen hätten, doch darauf wiesen keinerlei Anzeichen hin. Als er den schlappen Körper hochgehoben hatte, war ihm der flüssige Taubenkot auf dem Boden aufgefallen. Vielleicht hatte das Tier etwas Schlechtes gefressen. Oder es war krank gewesen? Er strich ihm gedankenverloren über die Flügel. Es war wirklich eine sehr schöne und gut
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