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Das Geheimnis der Salzschwestern

Das Geheimnis der Salzschwestern

Titel: Das Geheimnis der Salzschwestern
Autoren: Tiffany Baker
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überhaupt nicht so, wie man sich einen Jungen eigentlich vorstellte, sondern vielmehr zart und scheu wie eine Muschel. Schon von Geburt an hätten sie unterschiedlicher nicht sein können, Henry hatte nämlich den roten Schopf und die Sommersprossen ihrer Mutter, Jo hingegen dunkle Haut und Augen wie ihr Vater.
    »Da kommt dein Portagee-Blut durch«, sagte ihre Mutter immer, als seien Jo und ihr Vater die letzten Überlebenden eines exotischen Stammes und nicht etwa Nachfahren europäischer Einwanderer. Mamas Familie, die Gillys, deren Namen sie aus reiner Dickköpfigkeit beibehalten hatte, war durch und durch irisch, bis hin zu ihren sommersprossigen Füßen und ihrem Glück beim Karten- und Würfelspiel. Auch das hatte Jo nicht geerbt. Ihre Füße waren nussbraun, und ihr Temperament war so unveränderlich wie ein Zug, der seinen Gleisen folgte – ungünstig für den Spieltisch, aber genau richtig für ein Leben in der Salzmarsch.
    Für ihren Bruder wäre stattdessen eine Bibliothek der passende Ort gewesen. Der kränkliche, kurzsichtige Knirps hatte im unfassbaren Alter von drei Jahren lesen gelernt und hockte seitdem stundenlang auf der Veranda, wo er seine Nase in Bücher steckte, die die Generationen von Gillys vor ihm zurückgelassen hatten. Jo kehrte von ihrem Tagwerk im Salzschlick heim, und Henry plapperte los, erzählte ihr vom Lebenszyklus der Mäuse oder beschrieb die verschiedenen Arten von Wolken in alphabetischer Reihenfolge.
    Jo stellte sie sich gern gemeinsam im Bauch ihrer Mutter vor. Bestimmt war Henry zerstreut herumgeschwebt, während sie bereits die Dinge in die Hand genommen und die eingehende Nahrung zwischen ihnen aufgeteilt hatte, damit er das Essen nicht vergaß.
    Ihre Mutter unterbrach ihre Tagträumerei, wuchtete eine weitere Ladung auf das kleine Erdpodest neben dem Becken und schob sie zu einem sauberen Häufchen zusammen. »Nein«, stimmte sie zu, »Henry ist nicht so.« Sie hielt einen Moment inne, und in ihren Augen lag ein abwesender Ausdruck. »Vielleicht ist das seine Rettung.«
    »Und was ist meine Rettung?«, fragte Jo.
    Mama sah zu ihr hinab, als sei sie überrascht, plötzlich eine Tochter vor sich aus dem Boden sprießen zu sehen. »Du brauchst doch keine. Das Salz ist nur auf Knaben nicht gut zu sprechen.«
    Jo verzog das Gesicht. Das klang gar nicht gut. Es hörte sich eher wie eine Rechtfertigung dafür an, dass die Mädchen die ganze Arbeit machen mussten. »Was soll das heißen?«
    Mama schüttelte den Kopf, als wollte sie Fliegen verscheuchen. »Nichts.« Sie löste die Hände von Jos Harke. »Jetzt versuch es mal alleine. Die Bewegung muss aus der Schulter kommen.«
    Jo war mächtig stolz auf das Neuerlernte und prahlte vor Henry mit dem kleinen Rechen, den ihre Mutter ihr gegeben hatte. Doch ihr Bruder zuckte nur mit den Achseln und rollte mit den Augen. »Warum freust du dich denn über noch mehr Arbeit?«
    »Das ist keine Arbeit«, korrigierte ihn Jo und ordnete die Bänder ihrer neuen Drillichschürze. »Mama sagt, das ist ein Handwerk. Und du kannst es nicht erlernen, weil du ein Junge bist.«
    Henry zuckte wieder mit den Achseln. »Umso besser.« Er kannte sich mit den Abläufen auf dem Gut nicht aus und hatte auch nicht das geringste Interesse daran, also übernahm Jo die zusätzliche Aufgabe, die Becken auszukratzen, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie sich am Abend eine Extraportion Kartoffeln auf den Teller lud. Die Arbeit füllte sie aus, auch wenn sie nicht besonders spannend war. Sie dachte über die Worte ihrer Mutter nach, darüber, dass das Salz auf Jungen nicht gut zu sprechen war, und fragte sich, ob Henry vielleicht weniger Glück hatte, als er wusste, und ob das Salz über eine größere Macht verfügte, als sie sich das alle vorstellten. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass es vielleicht einfach nur die Geschichte auf seiner Seite hatte.
    In jenem August schickte Jos Mutter sie jeden Abend hinunter zu den schlammigen Rinnen, um in den Becken den Wasserstand zu kontrollieren. Wenn die Bassins beinahe trocken waren, kratzte Jo den gräulichen Schlamm von ihrem Grund und füllte die Senken dann wieder auf, indem sie an den Seilen der Schleuse zog und mit der Winde die Tore öffnete, so dass sich das Wasser aus dem Sammelbecken verteilte. Sie dachte dabei an ihren Bruder, der zurückgezogen wie eine Schnecke in seinem gemütlichen Bett lag, und er tat ihr leid, weil er so viel verpasste: das Gurgeln in den Rinnen zu ihren
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