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Das Geheimnis der Salzschwestern

Das Geheimnis der Salzschwestern

Titel: Das Geheimnis der Salzschwestern
Autoren: Tiffany Baker
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sich herumtrug. Vor dem Zubettgehen hatten Henry und sie stets Schere, Stein, Papier gespielt, und sie hatte dabei jedes Mal gewonnen.
    »Papier schlägt Stein!«, hatte sie dann immer gerufen und seine Faust mit ihrer glatten Hand bedeckt, während Henry mit den Tränen gekämpft hatte. Jetzt sah es so aus, als ob Jo schon wieder gewonnen hatte, denn hier stand sie nun mit ihrem Kiesel, und ihr Bruder war tot. Stein war stärker als Salz, Salz war stärker als Fleisch, und das Fleisch sank im Wasser wie Eisen hinab. Es fühlte sich furchtbar an. Jo warf den Stein in das Becken und sah ihn untergehen.
    »Was war das?«, fragte ihre Mutter.
    »Nichts«, antwortete Jo. Ihre Mutter schaute sie wütend an und wandte sich dann zum Haus um, in dem nun weder Henry noch ihr Vater auf sie warteten.
    »Das Salz darf nicht mit Dingen vermischt werden, die da nicht reingehören«, warnte sie. »Sonst musst du mit dem Schlimmsten rechnen.«
    »Was könnte denn noch schlimmer sein als Henrys Tod?«, fragte Jo und wischte sich über die Augen.
    »Sehr vieles«, meinte ihre Mutter. »Aber du bist einfach noch zu klein, um das zu begreifen.«
    Jo wartete ab, bis ihre Mutter wieder beim Haus war, und warf dann noch ein Steinchen ins Becken. Sie sah dabei zu, wie es im roten Schlamm versank, wo es verweilen und den aufgedunsenen Überresten ihres Bruders in der Erde Gesellschaft leisten würde, als Symbol ihrer Trauer, das Einzige, was sie ihm geben konnte.
    Am Tag von Henrys Beerdigung drängten sich die Frauen in den Bänken von St. Agnes und erfüllten die Kirche mit dem Duft von Lavendelwasser und Gardenienparfüm und natürlich dem Gewirr gedämpfter Stimmen.
    »Sitz gerade«, mahnte Mama Jo, bevor die Messe losging, und rückte Claire auf ihrem Schoß zurecht. »Heute sind alle Augen auf uns gerichtet.« Und jeder redet über uns, hätte Jo am liebsten hinzugefügt, hielt aber den Mund.
    Im Gotteshaus herrschte schwüle Hitze, und Jo war müde. Irgendwo hinter ihr summte eine Fliege, und dann wurde die Flügeltür aufgestoßen und ausgerechnet Ida Turner, die unbestrittene First Lady von Prospect, marschierte den Mittelgang der winzigen Kirche entlang. Die Knopfaugen ihrer Fuchsstola glänzten genauso wie die ihren. Ihre Anwesenheit spendete Jo bitteren Trost. Wenn in Prospect irgendjemand noch unbeliebter war als ihre Familie, dann war es Ida. Auch wenn alle viel zu viel Angst vor ihr hatten, um ihr das ins Gesicht zu sagen. Ida zerrte ihren sechsjährigen Sohn Whit am Handgelenk mit sich, und sein Anblick erinnerte Jo wieder an ihren Bruder, obwohl Whit doch kastanienbraunes Haar hatte und so dunkle Augen wie sie selbst. Sie blickte ihn an, er aber starrte auf seine polierten Schuhe, als wäre ihm der Auftritt seiner Mutter peinlich. Wenn Ida Turner die Kirche betrat, war es stets, als komme etwas über sie. Sie brannte dann hell wie ein zu stark geschürtes Feuer. Selbst Pater Flynn, der Pfarrer mit den wässrigen Augen und den zittrigen Fingern, vermied es, sie direkt anzusehen.
    Jetzt ging jedoch ein Raunen durch die Gemeinde. Man hielt es in Prospect für unangemessen, den Trauernden sein Beileid auszusprechen, bevor die Messe vorbei war und sie die Möglichkeit gehabt hatten, ein Sträußchen Wildkräuter vor dem Bildnis der Muttergottes niederzulegen. Erst dann, wenn die Mitglieder der Familie sich erhoben und den Mittelgang entlanggeschritten waren, bildete sich an der Tür nach draußen die Schlange derjenigen, die ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringen wollten. Selbst Ida hätte es besser wissen müssen.
    Das schien ihr jedoch egal zu sein. Sie streifte den kalbsledernen Handschuh ab, schob ihn sich in die Tasche und streckte Jos Mutter genau in dem Moment die bloße Hand entgegen, als Pater Flynn die Sakristeitür öffnete. Er entdeckte Ida und erstarrte. Wenn sie die Bühne betrat, dann hatte selbst Gott Pause. Im Dämmerlicht der Kirche glänzte ihr Haar wie das einer bösen Königin, und Jo konnte erkennen, dass Ida unter all dem Puder braun war wie eine Zigeunerin. In ihrem Dekolleté schimmerte eine einzige Perle an einem Silberkettchen, die mit ihrer Rubinbrosche, dem Diamantehering und den verschlungenen Ohrringen von der Größe eines Türklopfers kollidierten.
    Jo nahm ihrer Mutter ihre zappelnde Schwester ab. Ohne Henry an ihrer Seite war sie nicht mehr so abgelenkt wie früher und bemerkte Dinge, die ihr sonst nicht aufgefallen wären: wie ihre Mutter das Kinn vorschob, wenn sich Ida in ihrer Nähe befand,
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