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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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noch selber brauchen, da bin ich mir ganz
sicher.«
    »Sehen Sie mir in die Augen, Bernina.«
    Sie richtete sich auf und blickte auf ihn herab. Seine zittrigen
Hände ruhten auf ihren Armen.
    »Bernina«, flüsterte er. »Für mich sind Sie wie eine Tochter. Aber
das wissen Sie ja längst.«
    Erneut legte sie den Kopf auf seine Brust, und sie hörte das Herz,
das so schwach und leise schlug.
     
    *
     
    Wenn Bernina an den Abschied im Wirtshaus dachte, durchfuhr sie
der Schmerz. Auf einem Hügel ergriff sie Anselmos Hand, damit er neben ihr
stehen blieb. Sie sahen zurück auf das schäbige, etwas verloren dastehende
Gebäude mit dem schadhaften Dach, und von Neuem musste Bernina mit den Tränen
kämpfen. Bereits bei diesem Blick auf das Haus wurde ihr bewusst, dass alles
Hoffen sinnlos war. Melchert Poppel, den sie in Balthasars Obhut gelassen
hatten, würde diese Mauern nie wieder verlassen. Bernina würde nie wieder mit
ihm sprechen können. Es war der Tod, den sie in seinen Augen gesehen hatte. Sie
wusste es. Und Poppel selbst wusste es ebenso. Ihr Abschied war für immer
gewesen.
    Doch in gewisser Weise war er bei ihr, jetzt, hier, bei jedem
einzelnen Schritt, den sie zurücklegte. Manchmal schloss sie beim Gehen kurz
die Augen, und sie konnte Poppels Stimme hören, wie er ›meine liebe Bernina‹ zu
ihr sagte.
    Der letzte traurige Blick auf das Wirtshaus lag nun schon wieder
über einen Tag zurück, einen Tag und eine Nacht – die erste, die Bernina
allein mit Anselmo verbringen konnte. Seitdem sie sich geküsst hatten, damals
im Schwarzwald, schien ein ganzes Leben vergangen zu sein. Doch so viel auch in
der Zwischenzeit geschehen sein mochte, in dieser Nacht war es, als hätten sie
sich niemals verloren, als hätten sie niemals in Lebensgefahr geschwebt. Es
war, als würde es nicht einmal den Krieg geben. Nur sie beide waren wichtig,
zwei Menschen, die innehielten, um durchzuatmen, weit weg von der Welt.
    Im Wirtshaus hatte Bernina sich feste Schuhe und einen Lederwams
besorgen können, der ihr zwar etwas zu groß war, sie aber gut vor der Kälte der
Nacht und den Windböen des Tages schützte. Sie fühlte sich wohl in dieser
Abgeschiedenheit, allein mit Anselmo, und sie genoss den Moment, ohne darüber nachzugrübeln,
was jetzt noch kommen mochte.
    Andererseits war es auch ein irgendwie seltsames Gefühl, dieselben
Wege zu gehen, denen sie und Anselmo einst mit den Wagen gefolgt waren,
inmitten einer bunten, lebenslustigen Gauklergruppe, die der Krieg binnen eines
einzigen Tages für immer gesprengt hatte. Bernina und Anselmo kamen den Tälern
und Bergkuppen, den Wäldern und Flüssen immer näher, die Bernina kannte, seit
sie zurückdenken konnte. Sie atmete den Schwarzwald ein, sein süßlichkräftiges
Aroma, und ließ den Blick über die Wipfel der Rottannen und Fichten wandern.
    Das Gelände stieg an, aber das konnte sie nicht aufhalten. Sie
nahmen eine Erhebung nach der anderen. Die Zeit im Wirtshaus, so kurz sie auch
gewesen war, hatte Anselmo offensichtlich dazu verholfen, die Verletzungen
endgültig wegzustecken und fast schon seine gewohnte Kraft wiederzuerlangen.
Unermüdlich schritt er voran, eine Tasche mit Proviant für sie beide über die
Schulter geworfen, die Pistole im Gürtel.
    Am nächsten Tag passierten sie bereits die Granitfelsen, bei denen
die Gaukler damals ihr Lager errichtet hatten. Von da an überließ Anselmo ihr
die Führung. Ihm war nicht klar, was sie vorhatte – sie selbst ahnte es ja
nicht einmal, sondern folgte allein ihrem Gespür – doch mit seinen Blicken
und Gesten gab er ihr zu verstehen, dass er ihr überall hin folgen würde und
sie rein gar nichts zu sagen brauchte.
    Nach den Granitfelsen drangen sie tiefer ein in die dunklen,
unübersichtlichen Wälder, die sich über die bergige Landschaft erstreckten. Es
roch nach Moos und dem Regen, der in den letzten Tagen hier niedergegangen sein
musste. Bäume und Unterholz glänzten, Flüsse und Bäche trugen viel Wasser.
    Bernina fühlte, wie sich die Aufregung ihrer bemächtigte, wie sie
ihr tiefer unter die Haut kroch. Ihr war, als wäre ihr jeder Grashalm vertraut.
Wie gestern kam es ihr vor, dass sie diesen Wald durchstreift hatte. Unwegsamer
wurde es, Bäume und Sträucher wuchsen dichter, schienen sich den beiden
Eindringlingen zu versperren, die schweigend ihren Weg fortsetzten, Bernina
voran, Anselmo dicht hinter ihr.
    Stille umgab sie, als sie sich durch Buschwerk zwängten. Bernina
verlor kein einziges Mal
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