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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
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werde mit dem Sicherheitschef telefonieren, damit er sich darum kümmert, dass man dich in den Park lässt«, versprach Fabien umgehend. »Über die Route Saint-Cyr fährst du direkt bis ans Südtor.«
    »Lass dich noch mal umarmen!«
    Dann schob Fabien das Manuskript behutsam wieder in seine Hülle aus Stoff und legte diese zurück in die Schachtel. Er platzierte sie in der gleichen Schublade, aus der er sie zuvor herausgeholt hatte, und schaltete das Licht der Tischlampe aus. Sie verließen das Archiv über die Bühnentreppen. Das tiefe Brummen der Bratschen erfüllte die Gänge. Michael kehrte noch kurz in die Garderobe zurück, um seine Stradivari zu holen. Dabei traf er hinter den Kulissen auf das Personal des Opernhauses, aber niemand wagte es, ihn anzusprechen. Vor der gläsernen Schiebetür verabschiedete er sich von seinem Freund und trat dann auf den Privatparkplatz in der Rue Scribe hinaus. Es begann gerade zu regnen. Einen Moment lang war er für die Geräusche der Stadt dankbar, für die Lichter der Autos und Geschäfte, die zwischen den ersten Tropfen glitzerten … Er kam an den Chauffeuren der offiziellen Wagen vorbei, ging durch ein Tor hinaus und hielt ein Taxi an.
    »Bringen Sie mich zum Palast von Versailles!«
    »Um diese Uhrzeit?«
    »Schnell! Meine Frau wartet auf mich.«
    Während sie im dichten Regen um den Schlosspark herumfuhren, ging Michael das Bild des reglosen Sonnenkönigs auf dem Sterbebett nicht aus dem Kopf. Er fragte sich immer wieder, ob dieser beim Verfassen des Manuskripts wohl bereits gewusst hatte, dass er es dreihundert Jahre später lesen würde. Wieso ich?, fragte er sich. Wie kann ich bloß so eitel sein, mich für auserwählt zu halten? Die Hinweise waren aber so eindeutig … Er erinnerte sich an die beklemmenden Worte des Herrschers, die eine neue Ära ankündigten, und die implizite Bitte, jemand möge doch den Mut haben, diese Melodie in die verdorbene Welt hinauszuschicken. Es überkam ihn heiß und kalt, als er plötzlich daran dachte, dass sich ja heute die Herrscher der ganzen Welt unter dem Dach des Palais Garnier zusammengefunden hatten. Das konnte kein Zufall sein! Seit er die Melodie zum ersten Mal für Rachel gespielt hatte, war ihm ihre Bedeutung bewusst gewesen. Sie war ein goldenes Band ohne Anfang oder Ende, das irgendein Gott in einem Paralleluniversum hinterlassen hatte. Ein goldenes Band, das jedes Partikel dieser verlorenen Welt zusammenhalten würde …
    Das Taxi hielt vor dem Eingangstor direkt am Schweizer See. Michael Steiner bezahlte mit einem Schein, dessen Wert den Fahrpreis bei weitem überstieg. Zwei Sicherheitsmänner mit Militärregenjacken erwarteten ihn bereits. Sie begrüßten ihn und reichten ihm einen Schirm. Als sie sich anschickten, ihn zu begleiten, bat der Musiker in seinem völlig durchweichten Frack sie mit Blicken, ihn allein gehen zu lassen.
    »Wir warten dann im Wachhäuschen auf Sie«, willigte schließlich derjenige ein, der das Sagen zu haben schien.
    Er zeigte Michael noch den Weg und lieh ihm eine Taschenlampe. Mit energischen Schritten marschierte Steiner los. Unterwegs kam er am Außenbeet der Orangerie vorbei. Er konnte ja nicht ahnen, dass hier mit einem anderen Unwetter, das unversehens am Abend der Uraufführung von Amadis de Gaule losgebrochen war, alles begonnen hatte. Aber womöglich war es gar kein anderer Sturm gewesen, sondern genau derselbe, den auch Matthieu in seiner Partitur inmitten des Ozeans niedergeschrieben hatte, dieselben dunklen Gewitterwolken, die Newton in seinen Vorhersagen der Apokalypse heraufbeschworen hatte. Michael umrundete den Bosquet de la Reine, der dort stand, wo sich früher einmal das Labyrinth befunden hatte, und betrat den verschlungenen Pfad zum Steingarten. Als er unter den Bäumen hervortrat, erstreckte sich das magische Amphitheater vor ihm. Der Regen fiel plätschernd auf den Boden aus Marmor. Steiner drehte sich einmal um seine eigene Achse: die grasbewachsenen Sitzreihen, die goldenen Kandelaber, der Wasserfall. Der Wasserfall … Er sah ihn jetzt mit ganz anderen Augen und versuchte, den Zauber in sich aufzunehmen, den die am Stein befestigten Muscheln aus Madagaskar ausströmten.
    Wie viel Zeit habe ich später im Steingarten damit verbracht, nach der Melodie zu forschen, indem ich nach der Muschel suchte, die deinen Worten zufolge dort versteckt war!, rief er sich das Manuskript des Sonnenkönigs in Erinnerung.
    Man hatte die Quelle des Wasserfalls abgestellt, der
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