Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
Vom Netzwerk:
selbst, die ihn mit einem Mal anschrie: »Was dann?«
    Plötzlich erfasste ein Gefühl der Leere den Raum.
    »Fordere mich nicht heraus …«
    »Denkt Ihr etwa, Ihr könnt mir etwas nehmen, was mir gar nicht gehört?«, trotzte Luna ihm weiter. »Wer ist so einfältig zu glauben, dass dieses Leben unser Eigentum ist? Ich bin doch nur ein kleines Glied in der unendlichen Kette der Natur.«
    Alle schwiegen. Die Wut des Königs wuchs nicht weiter, stattdessen schien er die Stille auszukosten, die sich plötzlich um ihn herum ausbreitete.
    Mit langsamen Schritten kehrte er in den Nachbarraum zurück.
    »Habt Ihr das Experiment beendet?«
    »Das Experiment …«, wiederholte Newton, der seltsam verrenkt auf seinem Stuhl hockte.
    »Wo ist mein Stein?«
    »Der Versuch hat nicht funktioniert«, murmelte der Engländer.
    »Was?«
    »Es tut mir leid, Majestät.«
    Der König stürzte sich auf den Schmelztiegel. Er konnte es nicht fassen. In der Schale befanden sich nur noch verkohlte Reste. Der ganze Hass, der sich in ihm aufgestaut hatte, kochte wieder hoch. Er schrie wie ein Verrückter und fegte mit einer Handbewegung alle Instrumente vom Tisch, so dass sie zu Boden fielen und zerbrachen. Dann entdeckte er die Partitur in Newtons Händen. Er entriss ihm das Papier und zerfetzte es in tausend Stücke, die durch die Luft flogen.
    »Was tut Ihr denn da?«, rief Matthieu.
    »Ich mache dieser Farce ein Ende! Darauf habe ich nun monatelang gewartet.«
    »Wie könnt Ihr bloß die Tatsache verleugnen, dass die Melodie hier der wahre Schatz ist?«
    Der Herrscher drängte Matthieu an die Wand, der so schmerzhaft an seine Schulterwunde erinnert wurde. Luna warf sich mit der Wut einer Wildkatze auf König Louis, um den Geiger zu verteidigen, der Souverän versetzte ihr jedoch einen Stoß, der sie zu Boden schleuderte.
    »Welcher Schatz?«, fauchte er den Musiker an. »Kann ich ihn etwa mit Händen fassen? Ihr habt mich alle betrogen, und du wirst dafür bezahlen!«
    »Was habt Ihr vor?«, fragte Charpentier entsetzt.
    »Ihr habt mir ja noch nicht einmal zu dem Abkommen verholfen, um mit dieser verfluchten Insel Handel zu treiben!«, fuhr der Herrscher fort. »Es waren alles nur Lügen! Und du willst, dass ich mich mit einer lächerlichen Melodie zufriedengebe?«
    Matthieu schien die Klinge nicht zu fürchten und sprach mit bewundernswerter Gemütsruhe: »Diese Melodie zeigt uns die Wahrheit. Vielleicht verwandelt sie uns nicht augenblicklich, und sie wird Euch auch weder zu absolutem Wissen noch zu dem Gold verhelfen, das Ihr Euch vom Stein erhofft habt. Aber sagt mir doch: Habt Ihr nicht eine Sekunde lang einen Blick in den entferntesten Winkel Eurer Seele erhascht, als das Lied an Eure Ohren drang, auf diese unverdorbene göttliche Essenz, die wir noch immer alle in uns tragen, wenn auch beinahe völlig erloschen?« Er holte Luft und sprach sanft weiter. Dabei schenkte er dem Souverän einen Blick, in den er alles legte, was er gelernt und erfahren hatte. »Diese Weisheit braucht die verseuchte Welt. Die Melodie zeigt uns, was wir waren, als der Herr uns makellos erschaffen hat, und er gibt uns den Weg vor, auf dem wir zurückkehren können, um wieder so rein zu werden.« Matthieu verstummte kurz. »Seid Ihr denn nicht größer als alle anderen Menschen? Dann führt doch die Menschheit in diese neue Ära, die Newton rühmt. Werdet zu unserem Wegweiser!«
    Weshalb betörten ihn die Augen dieses jungen Mannes so? Warum lauschte er seinen Worten, als wären es die eines Propheten? Er fragte sich, ob der Geiger ihn vielleicht nur verwirren wollte. Er nannte ihn einen Anführer, den größten aller Menschen, in Wirklichkeit erinnerte er ihn aber genau wie die Melodie zuvor nur daran, wie menschlich er doch war. Er konnte es nicht ertragen, dass man ihn derart behandelte, ihn so ansah. Er war schließlich ein Gott, die Sonne auf Erden …
    Er presste den Dolch an Matthieus Hals.
    »Wartet …«, rief Newton.
    »Majestät, so hört ihn doch an«, bat Charpentier, der in den Augen des Wissenschaftlers ein ihm bekanntes Glitzern entdeckte.
    »Das Rätsel gibt den Moment vor, in dem das Experiment beginnen soll«, überlegte dieser mit lauter Stimme. »Wir sind davon ausgegangen, dass es sich um den Moment der Begegnung zwischen Sonne und Mond am Himmel handelt, aber …«
    »Sprecht weiter!«, flehte Charpentier, der mit Entsetzen sah, dass der zitternde Dolch des Königs dem Hals seines Neffen die ersten Blutstropfen entlockte.
    »Seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher