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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
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herein und ergriff von den begeisterten Aristokraten Besitz. Noch bevor diese sich dessen bewusst waren, was sie da eigentlich hörten, verspürten sie ein gewisses Kribbeln, dann einen Kloß im Hals und schließlich das unbändige Verlangen, in Tränen auszubrechen. Keiner begriff, was eigentlich vor sich ging. Wortlos blickten sie einander an. Zunächst dachten sie, dass es vielleicht an dem großen Eindruck lag, den die Enthüllung der Spiegel auf sie gemacht hatte, irgendwann wurde ihnen jedoch klar, dass es sich hier um etwas viel tiefer Gehendes handeln musste. Nach und nach bemerkten sie die verführerischen Töne, die sie umgaben und völlig erfüllten. Woher stammten sie? Lully nahm seine Musiker unter die Lupe, weil er zunächst dachte, dass vielleicht einer von ihnen spielte, und Le Brun wandte den Blick nach oben, um sicherzugehen, dass es nicht seine Engel waren, die diesen himmlischen Gesang angestimmt hatten. Félibien, der Chronist, betrachtete die Szene ratlos. Wie sollte er bloß zu Papier bringen, was da mit ihnen geschah? Es handelte sich um etwas so Erhabenes, dass es nicht mit Worten zu fassen war, nicht einmal mit seinen üblichen Superlativen. Irgendwann konnten es die Edelleute nicht länger ertragen und gaben sich ihrem Verlangen hin. Vor den Spiegeln flossen die Tränen in Strömen. Die Wimperntusche vermischte sich im Gesicht mit der Schminke, die zu tragischen Masken zerfloss. Auf seinem erhöhten Thron konnte sich der König dem Zauber als Einziger widersetzen, obwohl es auch ihm schwerfiel. Denn ihn traf der Gesang ebenfalls in tiefster Seele …
    Dann bemerkte er das Geräusch. Zunächst wurde es noch von dem Lied übertönt, schließlich aber war es immer lauter zu vernehmen. Es erinnerte ihn an das Knirschen, mit dem im Winter das Eis auf den Gartenteichen zerbarst. Er spitzte die Ohren, um auszumachen, woher es stammte.
    Auf einmal lief es ihm kalt über den Rücken.
    Einer der Spiegel war im Begriff zu zerbrechen.
    Wie auf der Eisfläche zeigte sich nun auf seinem Spiegel ein Riss.
    »Das darf doch nicht sein. Welch ein Albtraum …«
    Der Riss verzweigte sich, breitete sich netzförmig aus und griff nach und nach auf die anderen Spiegel über, bis bald kein einziger von ihnen mehr intakt war. Gebannt von der Melodie, die immer lauter ertönte, konnten die Edelleute ihre Augen nicht von diesem Spektakel abwenden, das noch viel erschütternder war als der Reflex ihres zerbrochenen Lebens. Die Spannung wurde unerträglich, und zur großen Verzweiflung des Königs, der sich nicht einmal mit einem Schrei Luft machen konnte, zerplatzten die fast vierhundert Spiegel in einem apokalyptischen Regen aus Glassplittern.
    König Louis sprang vom Podest und setzte einen Fuß auf die Scherben. Die Adligen schrien vor Entsetzen, als sie sich die gläsernen Fragmente aus den blutigen Gesichtern und Armen zogen. Der Herrscher verließ den Saal, schüttelte die fassungslosen Edelmänner und Berater ab, die fürchteten, er könne sich ernsthafte Schnitte zugezogen haben, und hastete zur Geheimtür in den Keller, in dem das Experiment ausgeführt wurde. Aus dem Gürtel eines Leibwächters der Schweizergarde zog er einen Dolch und rannte die Treppe hinab.
    »Was habt Ihr getan?«, brüllte er vom Gang aus.
    Newton hockte mit hängendem Kopf neben dem Ofen. Charpentier lehnte in einer Ecke des Raumes. Auch sie waren von der Melodie ergriffen, die Luna im Nebenraum in einer Art Rauschzustand vor sich hin sang.
    »All meine Spiegel sind zerbrochen!«
    »Was sagt Ihr da?«
    »Was ist denn nur los mit Euch? Hört Ihr diese verfluchte Melodie etwa nicht?«
    »Wie könnten wir sie denn nicht hören?«, murmelte Charpentier.
    »Diese Frau ist der Teufel selbst!«, tobte der Herrscher und hielt sich die Ohren zu, während er nach Luna Ausschau hielt.
    Er blickte in die Zelle hinein. Dort hockte die Priesterin auf der Pritsche in Matthieus Armen. Der Souverän drohte dem jungen Mann mit der Klinge.
    »Mach, dass sie endlich den Mund hält!«
    »Was soll dieser Befehl?«
    Inzwischen war es der Gesang aller Hüterinnen der Stimme, der durch Lunas Kehle erklang.
    »Sag ihr, sie soll aufhören!«, wiederholte der König blind vor Wut.
    »Aber spürt Ihr es denn nicht?«, bot ihm der Musiker die Stirn. »Hört ihr doch zu! Könnt Ihr nicht das Wesen der Melodie erkennen? Das ist göttliche Liebe in der Form von Musik!«
    »Sie hat meine Spiegel zerstört! Wenn sie nur noch eine einzige Note singt …!«
    Es war Luna
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