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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
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Zeiten, frei und ewig …«
    Luna schloss die Augen.
    Alle Musik verhallte.
    In jedem Winkel der Welt.
    »Luna, meine Liebe …«
    Stille.
    Weit fort von diesem Ort verstummte am Strand der Anosy die Brandung, und der Wind hörte auf zu wehen. Das Kind, das die Erdsitar spielte, sah zum Himmel auf. Es lächelte und hob die beiden Zweige hoch, mit denen es die Sisalsaiten angeschlagen hatte. Anschließend holte es tief Luft und fuhr mit dem verinnerlichten Rhythmus fort, zunächst sanft, dann mit größerer Sicherheit als je zuvor, und begleitete den Puls der Erde:
    Tam …
    Tam …
    Tam …

Nathalie
    N athalie konnte Stunden am Fenster verbringen. Die leichte Brise in den Tuilerien war das Einzige, was sie noch mit dieser Welt verband. Charpentier hatte ihr von den Ereignissen im Schlosskeller berichtet und ihr auch erzählt, dass sein Neffe seitdem verschwunden war und man keinerlei Lebenszeichen von ihm erhalten hatte. Paris lag verwaist da. Das alte Leben im Palast hatte am Abend der Spiegel ein Ende gefunden. Zwar sprudelten die Brunnen dort weiterhin, und die Vögel tranken nichtsahnend von ihrem Wasser, doch die Traurigkeit, die die ganze Region erfasst hatte, ließ die Musik in den Gärten verstummen. Schon seit Wochen fuhren keine Streicher mehr in behäbigen Gondeln über die Kanäle.
    Am ersten Sonntag im Mai wurde Nathalie früher als sonst wach. Kaum war der Morgen angebrochen, hörte sie auch schon dabei zu, wie der Park erwachte. Die Sonne wärmte ihre nackten Arme. Ein ferner Laut schien an ihr Ohr zu dringen. Rief da etwa jemand nach ihr? Aber das Geräusch kam nicht von draußen. Sie dachte an die Muschel, die Matthieu ihr geschenkt hatte, Lunas Schneckenhaus, das Töne voller Sehnsucht von sich gab. Es lag noch immer ruhig auf der Kommode. Sie ging hinüber, berührte die Schale und zeichnete mit dem Finger ihre Form nach. Sie fühlte sich kühl an. Als das blinde Mädchen die Hand zurückzog, vernahm es ein zartes Echo. Es klang nach Felsen, Fischen, Grün, Blau, Himmel und Salz …
    Es war die Sehnsucht der Muschel oder vielleicht die Sehnsucht Lunas, die sie ihrem Inneren anvertraut hatte.
    Nathalie fühlte sich schrecklich. Wie hatte sie auch nur einen einzigen Augenblick glauben können, die Muschel gehöre ihr? Das war kein gewöhnliches Andenken, das in einer Schublade vor sich hin stauben durfte. In Wirklichkeit war sie ein Schatz, ein Vermächtnis, und gehörte niemandem, sondern allen Menschen zugleich. Matthieu hatte sie ihr nicht geschenkt. Er hatte ihr dieses Kleinod anvertraut. Hatte er am Tag ihres Treffens womöglich schon geahnt, wie sich die Dinge entwickeln würden? Er hatte sie um einen Dienst ersucht, sie gebeten, das Erbe der Priesterin zu bewahren. Diese große Verantwortung ließ sie erschaudern, plötzlich kam ihr jedoch der ideale Platz für die Muschel in den Sinn. Ein Ort, der geradezu von diesem grausamen Schicksal vorherbestimmt schien, das in ihrem Leben so viel Schmerz zuließ.
    Fest entschlossen rief Nathalie nach ihrem Onkel.
    Le Nôtre stand vor dem Haus und zupfte gerade die welken Blätter an den Pflanzen ab, die den Eingang umrahmten. Er lief ins Haus und stieg eilig die Treppe hinauf, da er befürchtete, seiner Nichte sei etwas zugestoßen. Sie stand neben dem Toilettentischchen und sah hilflos zur Tür herüber.
    »Meine Kleine …«
    »Onkel André …«
    »Geht es dir gut?«
    »Außer dir versteht mich niemand.«
    Er nahm sie in den Arm.
    »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
    »Bring mich nach Versailles.«
    »Jetzt?« Sie nickte. »Was willst du denn im Schloss?«
    »Du musst mich zum Steingarten begleiten.«
    Sie sprach von André Le Nôtres Meisterwerk, einem kleinen Amphitheater für Tanzaufführungen unter freiem Himmel, das der Landschaftsgärtner vor gar nicht langer Zeit in einem Hain im südlichen Teil der Gärten nahe der Orangerie errichtet hatte. Es war als salle de Bal bekannt, er selbst bezeichnete es jedoch lieber als bosquet des Rocailles , als Steingarten, wegen der Materialien, die beim Bau verwendet worden waren: Sandstein aus Fontainebleau und Tausende von Muscheln aus Madagaskar, die die Expedition nach den ersten Kolonialisierungsversuchen auf der Insel mitgebracht hatte.
    Das war der Ort. Der richtige Platz für die Muschel.
    »Leg deinen Mantel um«, murmelte Le Nôtre zärtlich und reichte ihr den himmelblauen Umhang, der so gut zu ihren Augen passte.
    Er ließ umgehend eine Kutsche anspannen. Der Fahrer trieb die Pferde an, die
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