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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Andrés Pascual
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Liebe war. Was sind wir denn schon, wie ich nun endlich begriffen habe, ohne Liebe?
    Liebe
    Liebe
    Liebe
    Ich würde das Wort gerne tausendmal schreiben, aber auch das gäbe mir nicht die Gelegenheit, noch einmal zurückzukehren. Ich habe die Kehle durchtrennt, die das Lied anstimmte. Ich habe die Melodie der Seele für immer zum Schweigen gebracht!
    Mir bleibt nur wenig Zeit. Hinter der Tür drängen sich die Edelmänner und harren meines letzten Atemzuges. Ich höre sie gierig keuchen. Der Wind, der durch die Gitterstäbe des Fensters ins Zimmer weht, bewegt die Gardinen, mir ist jedoch weder warm noch kalt. Ich verdiene es schon seit Jahren nicht mehr, etwas zu verspüren. Ich habe deine Geliebte getötet, und du hast mich mit Vergebung gestraft. Wenn du mich gehasst hättest, wäre alles so viel einfacher gewesen … Aber du bist an meine Seite zurückgekehrt, damit ich die Ausmaße meiner Tat begreife, um mir ihre Geschichte zu erzählen und mir das Zeichen meiner Verdorbenheit mit Feuer in die Stirn einzubrennen. Wie viel Zeit habe ich später im Steingarten damit verbracht, nach der Melodie zu forschen, indem ich nach der Muschel suchte, die deinen Worten zufolge dort versteckt war! Ich bin die Stufen des Wasserfalls hinaufgekrochen und habe mein Ohr an jedes Schneckenhaus gelegt, damit jedoch nur erreicht, dass mich die Höflinge für verrückt hielten. Das berührte mich aber längst nicht mehr. Meine wahre Strafe waren deine Vergebung und das Versprechen, dass du nach meinem Tod noch einmal mit deiner Geige in den Palast zurückkehren und die Melodie für mich spielen würdest, damit ihr Weg mich ins unverdiente Paradies führt.
    Der Morgen des 1. September 1715 bricht schon bald über mich herein. Ich weiß, dass dies mein letzter Tag sein wird, dass meine Strahlen die Dunkelheit nicht mehr zu besiegen wissen. Ich vertraue nur darauf, mit diesen Zeilen die Gewissensbisse, die mich seit Jahren nicht mehr ruhig schlafen lassen, endlich zu beschwichtigen. Ich bin ein Mensch gewordener Gott, der nur noch ein einziges Mal eine Nacht durchschlafen will, bevor er dem Tod ins Auge sieht, selbst wenn es eine Nacht voll schrecklicher Albträume sein sollte.
    Hier brach das Manuskript ab. Keine Unterschrift, kein Siegel. Michael ließ die Seiten auf den Tisch sinken. Er lockerte den Kragen des Fracks ein wenig mehr und seufzte schwer. Dann sah er seinen Freund an.
    »Er erwähnt, dass nach seinem Tod diese Melodie für ihn gespielt würde … Rachel hat mich ebenfalls um dieses Versprechen gebeten.«
    »Genau das ist mir auch sofort aufgefallen«, antwortete Fabien. »Und eben deshalb habe ich dich hierhergebracht.«
    Langsam las Michael die Stelle laut vor: »… und das Versprechen, dass du nach meinem Tod noch einmal mit deiner Geige in den Palast zurückkehren und die Melodie für mich spielen würdest, damit ihr Weg mich ins unverdiente Paradies führt.«
    »Fühlst du dich angesprochen?«
    »Glaubst du tatsächlich, es handelt sich um dasselbe Stück, von dem ich annahm, dass ich es vor Jahren komponiert habe?«
    »Es ist die Melodie der Seele.«
    »Du denkst also wirklich, dass es mit diesem Mythos der Melodie vom Ursprung etwas auf sich hat? Willst du etwa behaupten, dass sie jemand vor dreihundert Jahren entdeckt hat und sie seitdem durchs Jenseits gewandert ist und nur darauf gewartet hat, von mir eingefangen zu werden? Und warum ausgerechnet von mir?«
    »Begreifst du es denn nicht, Michael? Das hast du eben nicht allein getan!«
    »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
    »Das wart ihr gemeinsam, Rachel und du.«
    »Fabien …«
    »Gibt es etwa eine tiefere Liebe als die eure? War diese Liebe denn nicht deine schönste Komposition? Keine Musik außer der Melodie vom Ursprung wäre dazu in der Lage, sie zu beschreiben.«
    Michael war völlig durcheinander. Ein ganzer Cocktail aus Emotionen braute sich in seiner Brust zusammen.
    »Mein Gott … Und wo ist dann diese Mondinsel, die im Manuskript erwähnt wird?«
    »Ich weiß es nicht, eines wird aber klar gesagt: dass eine der Muscheln im Steingarten die Melodie bewahrt!«, erinnerte ihn Fabien mit eindeutiger Absicht.
    »Meinst du den salle de Bal nahe dem Latona-Brunnen?«
    »Genau den. Der Wasserfall wurde mit Muscheln aus Madagaskar gestaltet.«
    »Du hast recht …«
    »Außerdem handelt es sich um eine der wenigen Gartenanlagen, die seit der Zeit des Sonnenkönigs unberührt geblieben sind.«
    »Ich mache mich sofort auf den Weg.«
    »Und ich
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