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Das fuenfte Imperium

Titel: Das fuenfte Imperium
Autoren: Viktor Pelewin
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Spur eingefahrener Gewohnheiten des Denkens, eine von immer gleichen Gedankengängen gegrabene Furche - etwas wie eine Bahn, unscharf an den Rändern, die entlang tagein, tagaus gedacht wurde. Folgte man dem Persönlichkeitsparcours, ließ sich binnen weniger Sekunden alles Maßgebliche über diesen Menschen erfahren. Dazu bedurfte es keiner zusätzlichen Erläuterungen von Seiten Mitras - es war, als hätte ich es längst gewusst.
    Der Mann arbeitete als Computeringenieur bei einer Moskauer Bank. Er hatte seine kleinen Geheimnisse vor den Leuten, ein paar davon konnten einen durchaus erröten lassen. Aber sein heimliches Hauptproblem, seine Scham und Schande war, dass er mit dem Betriebssystem Windows nicht zurechtkam. Er hasste es wie ein Strafgefangener seinen fiesesten Aufseher. Das ging bis an die Grenze des Lächerlichen. Es konnte ihm zum Beispiel die Laune verderben, wenn er jemanden auf Spanisch »hasta la vista« sagen hörte - weil ihn das an Windows Vista erinnerte. Alles, was mit seiner Arbeit zusammenhing, befand sich in der Zone der Abstoßung, in deren Mitte das Window-Fähnchen wehte.
    Was die Mitte der Anziehungszone ausmachte, schien ohne Weiteres klar zu sein: der Sex. Dem war aber bei näherem Hinsehen doch nicht so. Die größte Freude in seinem Leben war das Bier. Etwas überspitzt ausgedrückt, wollte dieser Mensch nicht mehr vom Leben, als nach dem Geschlechtsverkehr möglichst viel gutes deutsches Bier zu trinken. Dafür ertrug er alle Unbill seines Dienstes. Vielleicht war ihm dies selbst gar nicht so klar - aber mir.
    Ich kann nicht sagen, dass ich dieses fremde Leben zur Gänze überblickte. Es war, als stünde ich im Türspalt eines dunklen Raumes und ließe einen Taschenlampenstrahl über die Wandmalereien wandern. Mit dem Effekt, dass das Bild, auf dem mein Strahl gerade verweilte, näher rückte und sich auffächerte in eine Vielzahl kleinerer Bilder, und dies immer so fort. Ich hatte Zugriff auf jede einzelne Erinnerung - doch es waren viel zu viele. Außerdem ließ die Leuchtkraft der Bilder allmählich nach - wie wenn bei einer Taschenlampe die Batterie schwächer wird. Bis zuletzt alles verschwunden war.
    »Hast du was gesehen?«, fragte Mitra.
    Ich nickte.
    »Was denn?«
    »Einen Computerfachmann.«
    »Beschreib ihn mir.«
    »Wie zwei Waagschalen«, sagte ich. »Auf der einen das Bier, auf der anderen Windows.«
    Mitra wunderte sich über meinen komischen Satz nicht im Geringsten. Er ließ einen Tropfen der Flüssigkeit auf seine Zunge fallen, schien ein paar Sekunden zu schmecken.
    »Stimmt!«, sagte er dann. »Windows chrrrrr ...«
    Das konnte nun wieder ich verstehen: Der Computerfachmann ließ nämlich seinem Hass gegen eine der Versionen des von ihm zu betreuenden Produkts freien Lauf, indem er das XP als russische Buchstaben nahm und aussprach - es ergab sich ein grimmiges Knurren.
    »Was hab ich da gesehen? Was war das?«
    »Deine erste Verkostung. In der extremen Light-Variante! Das Präparat in Reinform hätte dich vergessen lassen, wer du bist. Und es hätte sehr viel länger gewirkt. Wenn man das nicht gewöhnt ist, kann es einen traumatisieren. Aber so empfindlich ist man nur am Anfang. Du wirst dich schnell daran gewöhnen ... Gratuliere! Jetzt bist du einer von uns. Jedenfalls so gut wie.«
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »aber wer sind Sie denn?«
    Mitra lachte.
    »Ich schlage vor, gleich zum Du überzugehen.«
    »Von mir aus. Was bist du für einer, Mitra?«
    »Ich bin dein älterer Freund. So sehr viel älter übrigens auch wieder nicht. Jedenfalls von gleicher Sorte wie du. Ich hoffe, dass wir Freunde werden.«
    »Wenn das so ist«, sagte ich, »dürfte ich vielleicht im Voraus um einen Freundschaftsdienst bitten?«
    »Selbstverständlich«, sagte Mitra lächelnd.
    »Könntest du mich von dieser Wand losbinden? Ich muss aufs Klo.«
    »Oh, natürlich. Bitte um Entschuldigung, ich musste mich erst überzeugen, dass alles normal verlaufen ist.«
    Als die Stricke zu Boden fielen, wollte ich einen Schritt nach vorn machen - und wäre umgekippt, wenn Mitra mich nicht aufgefangen hätte.
    »Vorsicht!«, sagte er. »Es kann sein, dass der Gleichgewichtssinn noch nicht wieder richtig funktioniert. Da müssen noch ein paar Wochen vergehen, bis die Zunge ganz angewachsen ist... Kannst du laufen? Oder soll ich helfen?«
    »Geht schon. Wohin?«
    »Links den Flur lang. Neben der Küche.«
    Die Toilette, dem Stil der Wohnung angepasst, glich einem Museum für
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