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Das fuenfte Imperium

Titel: Das fuenfte Imperium
Autoren: Viktor Pelewin
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»Mitra.«
    Ich verstand, dass das sein Name war.
    Mitra war ein hagerer, hochgewachsener junger Mann mit stechendem Blick, hauchdünnem Oberlippenbärtchen und einem Goatie. Er hatte etwas von einem Mephisto, aber als Upgrade: ein Dämon auf der Höhe der Zeit, der den archaischen Dienst am Bösen aufgegeben hat und den Weg des Pragmatismus beschreitet, auch das Gute nicht scheut, wenn man damit schneller zum Ziel kommt.
    »Roma«, sagte ich mit rauer Stimme und richtete den Blick auf das Sofa an der Wand.
    Die Leiche war verschwunden. Wie auch das Blut auf dem Fußboden.
    »Wo ist...«
    »Weggeschafft«, sagte Mitra. »Welch tragisches Ereignis. So plötzlich und unerwartet.«
    »Wieso war er maskiert?«
    »Sein Gesicht war durch einen Unfall entstellt.«
    »Hat er sich deswegen erschossen?«
    Mitra zuckte die Achseln.
    »Das weiß niemand. Der Verstorbene hat einen Brief hinterlassen, aus dem hervorgeht, dass du seine Nachfolge antrittst ...«
    Während er dies sagte, maß Mitra mich mit einem forschenden Blick.
    »... und das scheint so zu sein.«
    »Ich will nicht«, sagte ich leise.
    »Du wi-i-illst nicht?«, fragte er gedehnt zurück.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Das soll einer verstehen«, sagte er. »Ich finde, du müsstest froh sein. Du bist doch ein tougher Bursche, sonst hätte Brahma dich nicht ausgesucht. Und die einzige Perspektive für einen toughen Burschen in diesem Land ist es, sich vor den Arschfickern zum Affen zu machen.«
    »Mir scheint, da gibt es noch andere Möglichkeiten«, wandte ich ein.
    »Klar. Wer das nicht will, wird von den Affen in den Arsch gefickt. Zum gleichen schlechten Preis.«
    Ich widersprach nicht weiter. Man merkte, der Mann kannte das Leben nicht nur vom Hörensagen.
    »Du bist jetzt jedenfalls ein Vampir«, fuhr er fort. »Und scheinst noch nicht begriffen zu haben, was für ein Glück du gehabt hast. Hör auf zu zweifeln. Es gibt sowieso kein Zurück. Sag mir lieber, wie ist das werte Befinden?«
    »Mies«, sagte ich. »Ich hab höllische Kopfschmerzen. Und muss aufs Klo.«
    »Noch was?«
    »Zahnausfall. Die oberen Eckzähne.«
    »Das schauen wir uns alles gleich an«, sagte Mitra. »Sekunde.«
    In seiner Hand erschien ein kurzes Röhrchen mit schwarzem Pfropfen, halb gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit.
    »Dieses Gefäß enthält rote Tinte aus der Vene eines Menschen. Eins zu hundert verdünnt.«
    »Wer ist dieser Mensch?«
    »Das findest du selbst heraus.«
    Ich verstand nicht, wie er das meinte.
    »Mund auf!«, sagte Mitra.
    »Ist das nicht riskant?«
    »Nein. Ein Vampir ist immun gegen alle Krankheiten, die durch die rote Flüssigkeit übertragen werden.«
    Ich kam der Aufforderung nach. Mitra ließ sorgfältig ein paar Tropfen aus dem Röhrchen auf meine Zunge fallen. Die Flüssigkeit war von Wasser nicht zu unterscheiden - wenn da etwas beigemengt war, schmeckte man es jedenfalls nicht.
    »Reibe jetzt die Zunge gegen den Gaumen. Dann kriegst du was zu sehen. Wir nennen es den Persönlichkeitsparcours.«
    Ich tippte mit der Zungenspitze gegen den Gaumen. Dort gab es einen Fremdkörper. Es tat aber nicht weh - ein leichtes Zwicken allenfalls, wie von einem schwachen elektrischen Schlag. Ich fuhr also kreisend mit der Zunge über den Gaumen, und auf einmal ...
    Wäre ich nicht an die Sprossenwand gefesselt gewesen, ich hätte vermutlich das Gleichgewicht verloren. Es war eine dermaßen starke und hellsichtige Erfahrung, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Mit einem Mal sah ich - besser gesagt: ich fühlte - einen fremden Menschen. Und zwar von innen - als wäre ich plötzlich er, so wie es einem manchmal im Traum widerfährt.
    Dieser Mensch erschien mir als eine Lichtwolke, Polarlicht vielleicht, in der sich zwei Zonen unterscheiden ließen: eine der Anziehung und eine der Abstoßung, könnte man sagen. Wie Licht und Finsternis, Wärme und Kälte. Durch eine Vielzahl von Klecksen und Ausbuchtungen so ineinander verwoben, dass man warme Inseln im Eismeer zu sehen meinte oder aber kalte Seen auf heißem Boden. Die Abstoßungszone war angefüllt mit Beschwernissen und Antipathien - allem, was diesem Menschen zuwider war. Die Zone der Anziehung enthielt wiederum all das, was ihm das Leben lebenswert machte.
    Und ich sah, was Mitra als Persönlichkeitsparcours bezeichnet hatte. Quer durch beide Zonen führte tatsächlich eine schwer zu beschreibende, weil eigentlich unsichtbare Route, eine Art Rinne, in die die Aufmerksamkeit von ganz allein hineinrutschte. Es war die
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