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Das Fest Der Fliegen

Das Fest Der Fliegen

Titel: Das Fest Der Fliegen
Autoren: Gert Heidenreich
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verdunkelt. Fäulnis hat die Altäre des Herrn befallen! Die Schlange hat sich eingenistet in der Kirche! Der Atem des Drachen kriecht durch den Vatikan! Wer widersteht? Der Papst? Er ist ein Bruder des Teufels, der sein Drachengesicht menschlich maskiert! Die Kardinäle? Sie haben sich längst an Satan verkauft und küssen ihm seinen Hintern. Die Bischöfe? Sie drängeln sich an der Pforte der Hölle!« Er machte eine lange Pause. Was er gesagt hatte, breitete sich in den Köpfen seiner Mitbrüder als Schreckensszenario aus: Ein Drache stand auf dem Balkon über dem Petersplatz, breitete seine Fledermausflügel aus und schickte anstelle des Segens Urbi et orbi einen Flammenstoß auf die Gläubigen hinab. Der steinerne Petrus mit dem Schlüssel in der Hand stürzte von seinem Sockel. Und während Berninis schöne Kolonnaden sich neigten und zu brechen begannen, hob der Satan sich selbst eine Tiara auf den Drachenkopf, breitete die Schwingen aus, stieg auf und kreiste über dem einstürzenden Dom, der einstmals die Mitte der Welt gewesen war. Als er sicher war, die Furcht seiner Legionäre von Ranuccios Mord abgelenkt und auf das Ende der Welt gerichtet zu haben, sprach Petrus Venerandus weiter. »Nur die Engelslegion widersteht! Nur die Engelslegion rettet das Werk unseres Heilands, der gekommen ist, das Schwert zu bringen! Wir dürfen nicht nachlassen, bis das Leben wieder geheiligt ist – und sei es durch den Tod. Vergesst niemals: Exsurgit Deus, et dissipantur inimici eius!« Die Patres wiederholten den Psalm raunend im Chor: »Gott erhebt sich, da zerstieben seine Feinde.« Der Großabt hob sein Gesicht zur Decke der Halle und sprach vor: »Fiat misericordia tua, Domine, super nos!« Und die Brüder der Engelslegion flehten wie mit einer Stimme: »Deine Barmherzigkeit sei über uns, Herr!« Petrus Venerandus wartete die Wirkung der Stille ab, besah sich seine schweigenden Legionäre, deren Augen auf ihn gerichtet waren, als müsse er nach der Schreckensvision jetzt das Paradies verkünden. Langsam trat ein Lächeln in seine Züge. Je mehr in seinem Gesicht die Zuversicht wuchs, umso leichter ließen seine Brüder die Angst aus ihren Köpfen los. Er klatschte in die Hände. »Jetzt lasst uns den Drachentöter Ranuccio feiern! Er hat uns von einer großen Gefahr befreit, er hat Absolution erhalten und ist jetzt unschuldig wie ein frisch getauftes Kind! Er ist so rein, dass er den Boden nicht berühren soll! Tragt ihn!« Er lachte. Folgsam lachten sie alle. Sie hoben den Entsühnten auf, setzten ihn auf ihre Schultern und trugen ihn durch die Tür am Ende der Halle zu dem Wintergartensaal, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen. Sie nannten den Raum, der einen Zugang zur Küche hatte, Refektorium, obwohl sie keine feste klösterliche Gemeinschaft bildeten. Ranuccio wurde auf den Stuhl am Fuß der langen Tafel gesetzt, an der Stirnseite ihm gegenüber nahm der Großabt Platz, an den Flanken des Tisches die übrigen. Domenico de Cupis – der aus Salzburg stammende gelernte Buchbinder, der eigentlich Roland Hülsen hieß, war einerseits skrupellos wie kaum ein anderer im deutschen Zweig der Engelslegion, andererseits ein exzellenter Koch – und Philippe de la Chambre, der Mann für alles im Haus, begaben sich in die Küche, um die Speisen zu holen. Vor der Terrassentür und den hohen Sprossenfenstern zu beiden Seiten, die fast die ganze Breite der Westwand einnahmen, glühte der Park im Licht des Abends.
    Die Eichenkronen griffen als schwarze Silhouetten in den Himmelsbrand. Sein Widerschein spiegelte sich in den Augen der Patres. Petrus Venerandus stand auf und sprach das Gebet: »Heilige Muttergottes, gnadenreiche Maria, die du uns arme Sünder berufen hast, dir zu dienen. Die Legion deiner Engel zieht aus, deine Tränen zu stillen. Denn du weinst über die Sünden der Welt, wo der böse Feind den Heiden die Macht gegeben hat. Aber trockne deine Tränen! Die Engelslegion steht für dich im Feld. Wir sind das Schwert Mariae! Du bist unser Feldherr! Wir weichen nicht, bis die letzte Schlacht geschlagen und die Widersacher des Glaubens durch das innere Feuer geläutert sind, das wir ihnen bereiten. Vertraue auf uns, die Inquisitio Haereticae Pravitatis! Leuchte uns auf dem Feld des Sieges voran! Amen.« Das »Amen« der anderen klang wie ein Schlachtruf. Am lautesten kam es aus Ranuccios Kehle.
    Nach Mitternacht verließen die Patres, bürgerlich gekleidet in Anzug, Mantel, manche mit Hut, den Park auf der Rückseite des
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