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Das Fenster zum Hof

Das Fenster zum Hof

Titel: Das Fenster zum Hof
Autoren: Cornell Woolrich
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weit geöffnetes v.
Von dem Gegenstand, zu dem es gehörte, war aus meiner Perspektive nur ein
schmaler Streifen zu sehen, der das Fensterbrett weit genug überragte. Dieser
Streifen verdeckte gerade eben den Saum seines Unterhemdes, vielleicht ein,
zwei Millimeter. Aber ich hatte ihn vorher noch nicht gesehen, und ich konnte
nicht sagen, wozu er gehörte.
    Dann ging er plötzlich, zum ersten Mal,
seit die Rollos hochgegangen waren, von dem v weg, ein paar Schritte darum
herum und beugte sich hinab in einen nicht sichtbaren Teil des Zimmers. Als er
sich wieder aufrichtete, hatte er in den Armen etwas, was aus der Entfernung,
aus der ich hinüberschaute, wie eine Menge bunter Wimpel aussah. Er ging zurück
hinter das v und legte sie darauf ab. Nun tauchte er wieder nach unten weg und
war eine ganze Weile nicht zu sehen.
    Die über das v geworfenen »Wimpel«
änderten, während ich hinübersah, andauernd die Farbe. Ich habe sehr gute
Augen. Gerade waren sie noch weiß, da wurden sie plötzlich rot und dann blau.
    Schließlich kapierte ich. Das waren
Frauenkleider, und er zog sie eins nach dem anderen zu sich herunter, immer das
oberste. Mit einem Mal waren sie alle weg, und das v war wieder nackt und
schwarz, und sein Oberkörper war wieder zu sehen. Jetzt wußte ich, was das war
und was er tat. Die Kleider hatten es mir verraten. Und er bestätigte es mir.
Er spreizte die Arme zu beiden Enden des v, ich sah, wie er sich abmühte, wie
er drückte, und dann war das v plötzlich zusammengeklappt, sah aus wie ein
keilförmiges Stück von einem Quader. Dann bewegte er den Oberkörper in
rollenden Bewegungen vor und zurück, und der Quader verschwand auf einer Seite
des Fensters.
    Er hatte einen Schrankkoffer gepackt,
hatte die Sachen seiner Frau in einem großen, senkrechten Schrankkoffer
verstaut.
    Gleich darauf tauchte er am
Küchenfenster wieder auf, blieb dort einen Augenblick stehen. Ich sah, wie er
sich mit dem Arm über die Stirn fuhr, mehrmals hintereinander, und diesen dann
ins Leere schlenkerte. Klar, man konnte schon ins Schwitzen kommen bei solch
einer Arbeit, so heiß wie es an diesem Abend war. Dann streckte er einen Arm
nach oben, zur Wand hin, und holte etwas herunter. Da er sich in der Küche
befand, ergänzte meine Phantasie das Bild um einen Hängeschrank und eine
Flasche.
    Ich sah, wie er dann zwei-, dreimal die
Hand rasch zum Mund führte. Nachsichtig sagte ich mir: Genau das würden neun
von zehn Männern machen, nachdem sie einen Koffer gepackt haben — einen
kräftigen Schluck zu sich nehmen. Und wenn der zehnte das nicht tat, dann nur,
weil er nichts Alkoholisches greifbar hatte.
    Dann kam er wieder näher ans Fenster,
stellte sich seitwärts ganz an den Rand, so daß nur ein schmaler Streifen
seines Kopfes und seines Oberkörpers zu sehen war, und spähte heraus in das
dunkle Viereck, die Reihen der Fenster entlang, von denen die meisten jetzt
wieder unbeleuchtet waren. Er begann immer links, auf der Seite gegenüber von
mir, und ließ dann den prüfenden Blick im Kreis herumwandern.
    Das war bereits das zweite Mal an
diesem Abend, daß ich ihn dabei beobachtete. Und dann noch einmal am Morgen,
das machte schon dreimal. Ich lächelte innerlich. Man konnte fast meinen, daß
er sich irgendwie schuldig fühlte. Wahrscheinlich war es überhaupt nichts, nur
eine merkwürdige Angewohnheit, eine Schrulle, die ihm selbst gar nicht bewußt
war. Ich hatte sowas auch, das hat jeder.
    Er zog sich zurück ins Zimmer, und das
Licht ging aus. Seine Gestalt tauchte nebenan im noch hell erleuchteten
Wohnzimmer auf. Dort wurde es als nächstes dunkel. Es überraschte mich nicht,
daß im dritten Zimmer, dem Schlafzimmer mit dem heruntergezogenen Rollo, kein
Licht anging, als er eintrat. Natürlich wollte er sie nicht stören — besonders
wenn sie morgen aus gesundheitlichen Gründen verreisen mußte, was ich daraus
schloß, daß er ihren Koffer gepackt hatte. Sie brauchte soviel Ruhe wie nur
irgend möglich, ehe sie eine solche Reise unternahm. Es war ja kein Problem für
ihn, im Dunkeln ins Bett zu schlüpfen.
    Es überraschte mich allerdings, als
etwas später ein Streichholz aufflackerte, wieder im dunklen Wohnzimmer. Er
mußte sich dort hingelegt haben, wollte diese Nacht anscheinend auf dem Sofa
schlafen. Er hatte sich dem Schlafzimmer nicht einmal genähert, geschweige denn
einen Fuß hineingesetzt. Das verblüffte mich, offen gestanden. Da übertrieb er
es doch fast ein wenig mit der
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