Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Titel: Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
Autoren: Philippa Gregory
Vom Netzwerk:
Holbein - der sich zurücklehnt, während meine Schwester zum Stuhl eilt, der ein frisches Blatt nimmt und die Spitze seines Kreidestiftes prüft - hat uns alle gemalt, sämtliche Kandidatinnen für den Posten der Königin von England. Er hat Christina von Dänemark gemalt und Louise de Guise, Marie de Vendôme und Anne de Guise. Ich bin also nicht die erste junge Frau, deren Nase er mit ausgestrecktem Zeichenstift und zugekniffenem Auge ausgemessen hat. Und meine Schwester Amalie wird wohl nicht das letzte Modell sein. Vielleicht wird der Meister auf dem Heimweg nach England noch einmal in Frankreich Station machen und ein weiteres einfältig lächelndes Mädchen mit seinem finsteren Blick vermessen, ihr Abbild einfangen und getreulich ihre Makel darstellen. Es hat keinen Sinn, dass ich mich erniedrigt fühle, weil ich wie eine Lage Barchentstoff zur Begutachtung ausgelegt werde.
    »Gefällt es Euch nicht, gemalt zu werden? Seid Ihr schüchtern?«, hat der Meister in den ersten Minuten der Sitzung in barschem Ton gefragt, denn mein Lächeln war erloschen, nachdem er mich betrachtet hatte wie ein Stück Fleisch auf dem Abtropfbrett.
    Ich habe ihm nicht gesagt, was ich fühlte. Es hat keinen Sinn, einem Spion etwas anzuvertrauen. »Ich will ihn heiraten.« Mehr habe ich nicht gesagt. Der Meister zog eine kritische Augenbraue hoch. »Ich male nur die Bilder«, bemerkte er. »Euer Begehr solltet Ihr lieber seinen Gesandten mitteilen: den Botschaftern Nicholas Wotton und Richard Beard. Es hat keinen Sinn, mir so etwas zu sagen.«
    Ich habe genickt, als würde ich seinen Ratschlag beherzigen. Den Botschaftern werde ich gar nichts sagen.
    Nun sitze ich auf dem Fensterplatz. Ich trage mein bestes Kleid, mir ist heiß, und mein Mieder ist eng geschnürt. Zwei Mägde waren vonnöten, um die Bänder festzuziehen. Wenn mein Porträt fertig ist, werden sie die Knoten aufschneiden müssen! Ich schaue zu, wie Amalie ihren Kopf zur Seite neigt und Meister Holbein kokett anlächelt. Ich hoffe bei Gott, dass er sie nicht mag. Ich hoffe bei Gott, dass er sie nicht so malt, wie sie aussieht: fülliger und hübscher als ich. Für sie ist es nicht wirklich von Bedeutung, ob sie nach England gehen darf. Oh! Was für ein Triumph, wenn sie als jüngste Tochter eines armen kleinen Herzogtums mit einem Schritt zur Königin von England aufsteigen würde! Es wäre ein Höhenflug, der sie und unsere Familie und das ganze Volk von Kleve erheben würde. Aber sie hat es nicht so nötig wie ich. Für sie ist es keine Frage der Not, nur für mich. Fast möchte ich sagen: eine Frage der Verzweiflung.
    Ich habe versprochen, Meister Holbeins Bild nicht anzuschauen, deshalb wende ich den Blick ab. Dies kann man mir zugutehalten: Wenn ich mein Wort gebe, dann halte ich es auch, obwohl ich nur ein junges Ding bin. Also schaue ich aus dem Fenster in den Schlosshof. Draußen im Wald erschallen die Jagdhörner, das große vergitterte Tor schwingt auf, die Jäger kehren zurück, mein Bruder reitet an der Spitze. Er schaut zum Fenster empor und hat mich gesehen, bevor ich zurückweichen kann. Sogleich weiß ich, dass ich ihn erzürnt habe. Er denkt, ich sollte nicht am Fenster sitzen, wo mich alle Welt sehen kann. Obwohl ich sehr schnell war, bin ich sicher, dass er genau gesehen hat, wie eng ich geschnürt bin und dass mein Kleid einen tiefen, rechteckigen Ausschnitt hat, obwohl mich eine Musselinkrause bis zum Kinn bedeckt.
    Ich erschrecke vor dem finsteren Blick, den er mir zuwirft. Nun ist er äußerst ungehalten über mein Benehmen, wird es aber nicht sagen. Er wird sich nicht über das Kleid beschweren, für dessen Wahl ich Gründe anzuführen wüsste, nein, er wird etwas anderes finden, das er mir vorwerfen kann. Heute noch oder morgen wird meine Mutter mich in ihr Gemach rufen, und er wird hinter ihrem Stuhl stehen oder am Fenster. Auf jeden Fall wird es so wirken, als hätte dies gar nichts mit ihm zu tun und wäre ihm höchst gleichgültig. Sie aber wird in missbilligendem Ton zu mir sagen: »Anna, wie ich höre, hast du ...«, und wird irgendein Vergehen aufwärmen, das Tage zurückliegt und das ich längst vergessen habe. Aber es wird etwas sein, wovon er weiß und das er sich bis zu diesem Zeitpunkt aufgespart hat, sodass ich im Unrecht bin und vielleicht sogar bestraft werde. Und er wird kein Wort darüber verlieren, dass er mich eng geschnürt und mit tiefem Ausschnitt am Fenster gesehen hat, obwohl dies in seinen Augen mein wahres Vergehen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher