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Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)

Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Silvia Stolzenburg
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sich noch nicht so fühlte, wusste er, dass in wenigen Jahren auch ihn all die Gebrechen heimsuchen würden, über die viele seiner ehemaligen Kameraden schon lange klagten.
    Er unterdrückte einen Seufzer und schlich sich leise aus der Kammer. Er würde einfach jeden einzelnen Tag, der ihm geschenkt wurde, genießen und hoffen, dass es nicht sein letzter war. Vielleicht würde es ihm ja dieses Mal vergönnt sein, seinen Sohn all das zu lehren, was ihm sein eigener Vater beigebracht hatte.

    *******

    Mailand, April 1369

    Staunend blickte Brigitta auf den riesigen Stapel weißer Marmorblöcke, die an diesem Tag aus Candoglia eingetroffen waren. Blendend hob sich der kostbare Stein von den hölzernen Baugerüsten ab, die wie Bäume in den Himmel schossen und die dreieckige Fassade des Doms bereits erahnen ließen.
    Dem Beispiel nördlicher Vorbilder nacheifernd, hatten sich die Mailänder für eine gewaltige, fünfschiffige Basilika mit dreischiffigem Querhaus und monumentalem Chor entschieden, die den Ruhm der Stadt mehren sollte. Überall wuselten Handwerker und Aufseher durcheinander, während auf typisch italienische Art lautstark Anweisungen ausgetauscht wurden.
    Mitten in dem Getümmel machte sich Wulf an einer übermannshohen Heiligenfigur zu schaffen, die nach deren Vollendung die Fassade schmücken würde. Mit ihm schwangen Brigittas Bruder Matthäus und Wulfs Freund Lutz Klöpfel und Schlageisen, um dem kapriziösen Werkstoff die Formen abzutrotzen, die ihnen vorschwebten. Ebenfalls mit dabei waren der aus Ulm mit nach Italien gereiste Kreuzwinkelmeister, sowie viele der Steinmetze, die ehemals unter Ulrich von Ensingen am Ulmer Münster gearbeitet hatten. Nachdem ihr Vater im Streit mit dem Rat die Oberhand gewonnen hatte, war Brigittas Schwager Hans Kun – dem Mann ihrer Schwester Anna – die Leitung der Münsterbaustelle übertragen worden. Offenbar hatten die Ratsherren sehr schnell begriffen, dass sie ohne Ulrich von Ensingens Musterbuch und mit einem anderen Werkmeister am Ende ihres Traumes angelangt waren, weshalb sie den Vertrag auf seinen Schwiegersohn übertragen hatten.
    Brigitta verzog den Mund. Wieder einmal hatte Ulrich von Ensingen seinen Willen bekommen. Noch immer wich sie aus, wenn ihre eigenen Wege drohten, sich mit denen ihres Vaters zu kreuzen – denn vergeben hatte sie ihm noch lange nicht. Vielleicht würde es ihr eines Tages gelingen, seine Sicht der Dinge zu begreifen, doch bis dahin würde noch viel Wasser die Olona hinabfließen.
    Als das in eine weiche Decke gewickelte Kind auf ihrem Arm begann, sich zu rühren, wandte sie sich mit einem letzten Blick auf ihren Gemahl ab und suchte den Schatten. Wie versprochen hatte Wulf sie nicht zu einer Muntehe gezwungen, und hätte sie ihn nicht sowieso schon mehr geliebt als ihr eigenes Leben, hätte die Reaktion auf die Geburt seiner Tochter ihr Herz im Sturm erobert. Anders als ein Großteil der Männer, die sie kannte, hatte Wulf beim Anblick des feuerroten Gesichtchens einen Freudenschrei ausgestoßen und Brigitta so fest an sich gedrückt, dass die Hebamme ihn empört des Raumes hatte verweisen wollen.
    »Es ist ein Mädchen«, hatte Brigitta ihm schuldbewusst mitgeteilt und sich für eine Reaktion gewappnet, die nicht gekommen war. Voller Ehrfurcht hatte Wulf das kleine Bündel an sich genommen und auf das Wunder in seinen Armen gestarrt.
    »Mein Gott, ist sie schön«, hatte er gemurmelt, um sie dann – aus lauter Angst, das Kind zu zerbrechen – in die Hände der Hebamme zu legen.
    Später, nachdem Brigitta das Wochenbett verlassen hatte, hatte Wulf begeistert Pläne geschmiedet. »Auch Mädchen können Steinmetze werden«, hatte er verkündet und scherzhaft Daumen und Zeigefinger um den Oberarm seiner Tochter gelegt. »Sieh nur, wie stark sie schon ist.«
    Die Erinnerung brachte Brigitta zum Lachen. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, wie eine Frau jemals den harten Alltag auf einer Baustelle meistern sollte, aber wenn das Spinnen solcher Fantasiegebilde Wulf Freude machte, dann würde sie ihm diese ganz gewiss nicht nehmen.
    Gemächlich schlenderte sie einen schmucken Säulengang entlang, an dessen Ende sie sich nach rechts wandte, um den Heimweg einzuschlagen. Als das Kinderdeckchen ein wenig verrutschte, blitzte das Korallenhalsband auf, das Brigitta ihrer Tochter angelegt hatte, sobald die Hebamme es erlaubt hatte. Da sie alle wie durch ein Wunder von der Pest verschont geblieben waren, hatte sie ihr Kind so bald als
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