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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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sondern den Etappenmenschen. Sie haben Etappenseelen.
    Sie hauen sich selbst und andere in Stücke; ich ein Stück Weg, du ein Stück Weg. Vor allem die Großen, Starken, Schnellen werden bestürmt. Sie können sich vor Räuberleiter- und Huckepack-Bitten nicht retten. Die Kleineren, Schwächeren, Langsameren lassen sich von ihnen auf Simse und in Bäume heben, reiten auf ihnen zur Arbeit oder nur zur nächsten Bushaltestelle. [29] Es ist ein Gewusel und Gekletter wie auf einem Kinderspielplatz. Viele gehen aber umher und finden keinen, der groß genug ist für ihr Sims, stark genug, sie zu heben, schnell genug, die Verspätung, die sie haben, doch noch aufzuholen. Sie klettern an Menschen hoch und springen enttäuscht wieder ab. Sie wiegen so viel, dass die Träger stöhnend in die Knie gehen. Die große Stadt ist nicht mehr wiederzuerkennen, so maßlos übertrieben ist alles, was dort geschieht.
    Eine Frau schreibt ihre »sexuelle Autobiografie«. Sie ist nicht alt, aber schon alt genug. In dem Kapitel »Die Zahl« schreibt sie: »Zahlen und Mengen haben mich als Kind sehr beschäftigt. (…) Eine Frage drehte sich darum, mehrere Ehemänner zu haben; nicht, ob es möglich sei – denn das war es wohl –, sondern unter welchen Bedingungen. Konnte eine Frau mehrere Männer gleichzeitig haben oder immer nur einen nach dem anderen? (…) Und wie viele Männer waren ›angemessen‹? Ein paar, fünf oder sechs? Oder sehr viel mehr, unzählige gar? Wie würde ich damit umgehen, wenn ich groß wäre?«
    Das Kind ist groß geworden, zur Frau. Die Frau schreibt: »Bei den größten Sexpartys, an denen ich in den folgenden Jahren teilnahm, machten bis zu 150 Personen mit (nicht alle vögelten, manche sahen auch nur zu); ein Viertel oder Fünftel von ihnen nahm ich, wie es kam – mit den Händen, mit dem Mund, mit der Möse, mit dem Arsch. Ich habe auch mit Frauen gevögelt oder sie gestreichelt, allerdings nicht so häufig. In den Clubs schwankten die Zahlen natürlich je nach Teilnehmern, aber auch je nach Raumnutzung; darauf komme ich noch zu sprechen. Die Zahl der Männer, mit denen ich abends im Bois de Bologne zugange war, ist noch schwieriger zu schätzen. Müsste ich auch jene hinzuzählen, denen [30] ich mit dem Kopf am Lenkrad einen blies oder bei denen ich mich in der Kabine eines Lastwagens auszog? Und müsste ich all die Körper ohne Kopf vernachlässigen, die sich hinter der Wagentür abwechselten und ihre unterschiedlich steifen Pimmel mit wilder Hand wichsten, während die andere aus dem offenen Fenster langte und meine Brust knetete? Neunundvierzig Männern, mit denen ich geschlafen habe, kann ich einen Namen zuordnen und in manchen Fällen auch eine Identität. Jene aber, die sich in der Anonymität verlieren, kann ich nicht zählen. Auch wenn auf den Partys Leute waren, die ich kannte oder wiedererkannte, konnte ich im Durcheinander der Berührungen und bei den schnell aufeinander folgenden Ficks vielleicht die Körper erkennen, oder besser gesagt, deren charakteristische Merkmale, aber nicht immer die Gesichter. Und selbst wenn ich mich an diese Besonderheiten erinnere, muss ich zugeben, dass ich nicht alle kannte; der Kontakt war manchmal sehr flüchtig, es konnte sein, dass ich mit geschlossenen Augen eine Frau an ihren weichen Lippen erkannte, aber nicht notgedrungen an ihren kräftigen Berührungen. Es kam vor, dass ich erst nach dem Fick gemerkt habe, dass es ein Transvestit war. Ich war einer Hydra ausgeliefert.«
    Das Buch wird zum Erfolg – nicht weil es den Lesern und Leserinnen etwas Unbekanntes, Überraschendes offenbart, sondern, im Gegenteil, weil es ein Bild des Gewöhnlichen, des Alltags gibt. Die Menschen erkennen sich wieder, wie sie sich vielleicht noch nie wiedererkannt haben. Denn die meisten Bücher sind nicht so übertrieben, also wirklichkeitsgetreu.
    Auch die Leser und Leserinnen sind der Hydra ausgeliefert. Nicht nur der Sex-Hydra, auch der Liebes-Hydra. Auch sie leben in einer Welt der Zahlen, des Plurals, der Körper ohne Kopf, der charakteristischen Merkmale.
    [31] Auch ihre Wege führen durch einen Bois de Bologne . Auch sie haben Probleme, sich an alle zu erinnern, ihnen Namen und Identitäten zuzuordnen; wenn schon nicht bei allen, die sie besessen, so doch bei allen, die sie einmal begehrt haben. Auch die Partys, auf die sie gehen, sind Sexpartys, führen zum Sex, sind Sexmöglichkeiten. Auch ihre Kontakte sind häufig sehr flüchtig.
    Die Menschen fragen sich also:
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