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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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Selbst wird bestimmt und begrenzt durch die Interaktion mit dem Anderen. Wenn der Mensch sich trennt und eine neue Partnerschaft beginnt, kann er ganz neue Seiten an sich entdecken. Im Prinzip ist das Selbst unendlich.«
    Man stelle sich vor!
    Alles sähe so übertrieben aus, wie es tatsächlich ist: Eine typische große Stadt. Millionen Menschen. Massen auf den Straßen, in den U-Bahnen und Hochbahnen, in den Hör- und Lesesälen, in den Büros und Cafés, Restaurants und Geschäften.
    Was ist eine Masse?
    Früher bildete sich eine Masse nur, wenn Viele einen Einzelnen anschauen wollten. In der Masse von heute dagegen schaut jeder Einzelne die Vielen an. Seit die Stadt groß ist, waren die Menschen aneinander vorbeigegangen, ohne Kenntnis voneinander zu nehmen. Doch jetzt plötzlich sehen sie sich an. Sie sehen sich, wie man sagt, tief in die Augen. Sie bleiben stehen und berühren einander. Sie halten sich in den Armen und küssen sich lang mit gesenkten, flatternden Lidern. Sie beißen einander in die langen, bloßen Hälse. Sie verlieben sich auf den ersten Blick – und sind enttäuscht auf den zweiten. Sie begegnen der großen Liebe auf der Straße, in einem Geschäft, und haben es Minuten später vergessen. Sie haben keine Zeit mehr für die Liebe, weil sie dauernd lieben müssen.
    [27] Von Weitem sieht man einen Menschen auf den anderen zu fallen, als befänden sich beide auf einer Senkrechten, keiner Waagerechten. Überall sieht man die Menschen fallen, einer auf den anderen zu. Die Erde steht lotrecht, es gibt kein Halten mehr. In Ecken und Sackgassen bilden sich Menschenhaufen.
    Die Menschen sehen nicht mehr geradeaus, sondern gehen mit verdrehten Köpfen durch die Straßen. Viele wachen bereits auf mit verdrehten Köpfen.
    Auf den großen Plätzen erzählen Fremde einander ihr Leben in Reimform. Sie können es auswendig. Sie fallen sich in die Arme wie alte Bekannte. Sie sagen »Du« zueinander und »Ich« zu sich selbst. Sie halten auf dem Weg zur Arbeit inne, gehen auf einen ihnen vollkommen fremden Menschen zu, sagen Ich und Du, und der Andere sagt Du und Ich, und die beiden ändern ihre Routen und gehen Hand in Hand davon. Andere, die Hand in Hand dahergekommen sind, bleiben stehen, an einer Ampel, vor einem Schaufenster, und sagen einander unvermittelt Lebewohl.
    Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, sind in lebhaftem Gespräch. In den Zügen und Bussen tun die Menschen, als seien sie auf einem Fest, in einer Disko. Sie tanzen, sie lassen die Hüften kreisen. Sie werfen die Arme in die Luft. Einander Unbekannte steigen irgendwo zusammen aus. Überall ist Musik.
    Viele Menschen gehen nackt durch die Straßen. Jahrhundertelang liefen die Menschen eingekleidet durch die Städte wie isolierte Drähte in einem Kabelmantel. Es war ein gedrängtes, doch reaktionsloses Nebeneinander. Jetzt haben die Menschen ihre Isolierungen abgestreift. Es fließt Strom. Oder die Isolierungen sind so dünn geworden, dass die Spannung dauernd durchschlägt. Überall schlägt es Funken, gibt es Kurzschlüsse, riecht es verbrannt. Auch in den Büros sind [28] die Menschen nackt. Auch in den Konferenzen stehen die Menschen auf und sagen in Reimform ihr Leben auf.
    Auf der Straße halten die Menschen plötzlich inne, weil ihnen ein anderes Leben eingefallen ist. Auch wenn sie ein Gefühl haben, bleiben sie stehen – und schreien. Andere laufen hinzu und nehmen sie in den Arm.
    Die Menschen haben ihre Möbel auf die Straße gestellt, sie schlafen und arbeiten, weinen und befriedigen sich selbst auf dem Bürgersteig.
    Oder ist es umgekehrt? Die Straßen gehen durch die Häuser hindurch, Tausende Menschen auf dem Weg zur Arbeit strömen jeden Morgen an zerwühlten Betten vorbei, strömen abends zurück, den ganzen Tag herrscht in den Wohnungen das Gewimmel von Einkaufsstraßen. Die Menschen wissen nicht mehr, was Wohnung, was Straße ist, ob sie zu Hause oder draußen sind. Es macht auch keinen Unterschied. Die Häuser sind eng zusammengerückt, auch die alten Boulevards und Heerstraßen sind jetzt Gassen, durch die der Menschenstrom wie zähe Lava fließt.
    Überall sieht man Menschen, die auf andere Menschen klettern. Sie bitten nicht mehr um Feuer oder um die Uhrzeit (sie wissen, dass sie zu spät sind), sondern um eine Räuberleiter, einen Ritt. Sie tragen einander Huckepack bis zur nächsten Ecke, zur nächsten Kreuzung. Dann steigen sie ab und um. Sie bitten den Nächsten. Sie suchen nicht mehr den Seelen-,
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