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Das dunkle Schweigen: Denglers zweiter Fall (German Edition)

Das dunkle Schweigen: Denglers zweiter Fall (German Edition)

Titel: Das dunkle Schweigen: Denglers zweiter Fall (German Edition)
Autoren: Wolfgang Schorlau
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wie der Mittelfinger. Diese zweieinhalb Zentimeter waren der entscheidende Vorteil gewesen, wenn sie mit den anderen Kindern auf die Raubzüge in die großen Städte geschickt wurde. Eine Brieftasche lässt sich sehr viel leichter mit zwei gleich langen Fingern aus der Innentasche eines Jacketts ziehen als mit einem normal gewachsenen Zeigefinger. Olga wurde der Star unter den rumänischen Kinderdieben.
    Später floh sie, wurde wieder gefangen, zwangsverheiratet, floh wieder und landete schließlich in Stuttgart. Die Gelenke des misshandelten Fingers schwollen an und schmerzten selbst bei kleinen Bewegungen. Sie fand einen Schweizer Chirurgen, der sie behandelte. Eine Woche lang war sie in dem Züricher Spital gewesen.
    »Nun bin ich wieder gesund«, flüsterte sie und krümmte und streckte den Zeigefinger.
    Sie nahm Georg bei der Hand und zog ihn an den Tisch. Martin Klein rutschte zur Seite, jemand schob einen Stuhl herbei, der gut aussehende kahlköpfige Kellner brachte ein Glas, Olga schenkte Georg ein, er lachte, und Olga zog ihm unbemerkt sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner Hose.
    »Ich bin wieder in Form«, sagte sie, als sie ihm den Geldbeutel zurückgab.
    * * *
    Es war schon fast halb drei, als sie aufbrachen. Bereits vor zwei Stunden hatte der kahlköpfige Kellner die Stühle auf die Tische gestellt und sich zu ihnen gesetzt. Doch nun war Georg Dengler müde, Martin Klein auch, und der Kellner wollte nach Hause. Nur Olga wäre gerne noch geblieben. Untergehakt verließen sie zu dritt das Basta. Bis zum Hausgang waren es kaum mehr als zwei Meter. Doch Dengler kam es vor, als schwanke Martin Klein. Er fasste den Freund fest unter die Schultern und zog ihn zum Eingang.
    »Dein Horoskop hat versagt, mein Freund«, sagte er zu ihm, »heute Abend habe ich zwei weitere Aufträge bekommen.« »Gut bezahlte?«, fragte Klein, der seinen Schlüssel aus der Hosentasche zog.
    »Nein. Schlecht bezahlte.«
    Klein stieß mit der Schlüsselspitze zwischen Daumen und Zeigefinger an Denglers Brust.
    »Dann, mein lieber Freund, dann stimmt mein Horoskop.«
    »Du kannst mich bei einem Einsatz begleiten.«
    »Bei einer Geiselbefreiung?«
    »Nein, ich bin Sicherheitsmann bei einer Milliardärsparty.«
    »Da will ich auch mit«, sagte Olga.
    »Milliardäre haben nie Bargeld dabei«, krächzte Klein und versuchte, die Tür aufzuschließen.
    »Kreditkarten akzeptiere ich nicht«, sagte Olga, nahm ihm den Schlüssel ab und schloss auf.
    »Ich könnte Milieustudien betreiben«, sagte Klein, als sie die Treppe hinaufgingen.
    »Ich will auch Studien betreiben«, sagte Olga. »Komm,Georg, spiel uns noch einen Blues vor, einen einzigen.«
    Später saßen sie auf seiner Couch und lauschten Junior Wells.
    They take your house and your home
    They take your flesh from your bone
    They take everything you got
    Why people like that
    »Sobald ich etwas Geld verdient habe, fahre ich nach Chicago und höre Junior Wells live«, sagte Georg Dengler leise. Olga lehnte mit dem Kopf an seiner Schulter und hörte der Musik zu.
    »Dein alter Traum«, sagte sie. »Nimm mich mit auf die Milliardärsparty. Dann hast du genug Geld für Chicago und jeden anderen Platz der Erde.«
    Martin Klein schnarchte laut.
    »Und du weißt, wo du Junior Wells findest?«, fragte sie. »Er spielt fast jeden Abend in einem Club namens Theresa's Lounge. Sagt das Internet.«
    »Was macht eigentlich Christiane?«, fragte Olga nach einer Weile.
    »Sie ist immer noch in Italien. Bei ihrem Vater«, erwiderte Dengler rasch.
    »Na denn.« Olga stand auf und ging zur Tür. »Gute Nacht, Georg.«
    Dengler blieb noch eine Weile sitzen und lauschte Junior Wells. Er betrachtete die Madonnenstatue an der Wand. Bilder stiegen in ihm auf, der Hof von Paul Stein, Christianes Vater, das Feld mit den Ringelblumen; er sah, wie sich Vater und Tochter umarmten. All das schien ewig zurückzuliegen.
    Dann fiel sein Blick auf den schlafenden Martin Klein. Dengler seufzte und erhob sich.
    Olgas Frage nach Christiane hatte die unbeschwerte Stimmung getrübt, die er nach seinem Besuch bei Nolte & Partners im Kreis seiner Freunde so genossen hatte. Doch während er sich um Martin Klein kümmerte, der die Orientierung völlig verloren zu haben schien, und ihn mühsam in seine Wohnung verfrachtete, wurde ihm bewusst, dass er schon lange nicht mehr an Christiane gedacht hatte.
    Eine halbe Stunde später lag Georg Dengler in seinem Bett. Zum ersten Mal seit Monaten begleitete die Fledermaus wieder
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