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Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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sagte sie. Sie fühlte sich wie ein Spion, der ungefragt in sein Privatleben eingedrungen war. „Warum haben Sie ihn nicht auch zu einem Tee eingeladen?“
    „Er war in Eile.“ Nicolá streckte die Hand nach der Kanne aus. „Kommen Sie, ich nehme das.“
    „War es jemand aus dem Dorf?“
    „Sarkis Abdoullah. Mein Nachbar. Sie kennen ihn?“
    Azizah lachte angestrengt. „Er hat uns als Kinder manchmal beim Äpfelklauen erwischt. Wie geht es ihm?“
    „Er ist kein junger Mann mehr.“
    „Nein“, stimmte Azizah zu, „vermutlich nicht.“ Sie setzte sich auf ihren Stuhl und wartete, bis ihr Gastgeber frischen Tee eingeschenkt hatte.
    „Erzählen Sie mir von Mailand“, forderte er sie auf.
    Die Frau mit dem Namen Azizah war tatsächlich Selman Abourjeilis Tochter. Nikolaj blieb am Tor stehen und beobachtete, wie sie den Weg hinunter fuhr und dann hinter der Biegung verschwand.
    Sarkis hatte es bestätigt, sie verbrachte die Semesterferien bei ihren Eltern. Er fühlte etwas wie Erleichterung. Seit er sein Refugium hier errichtet hatte, war er stets vorsichtig gewesen. Außer vielleicht mit dem Kloster, in dem seine Bilder hingen. Das war nicht rational gewesen, er hatte es einfach aus einem inneren Bedürfnis heraus getan. Vielleicht erwies sich das nun als Fehler. Er würde noch einmal mit Pater Georg sprechen und ihn bitten müssen, in Zukunft seinen Namen nicht mehr preiszugeben, wenn einer der Touristen danach fragte. Der Abt würde es verstehen, wenn er ihm erklärte, dass er von fremden Leuten nicht belästigt werden wollte.
    Er war Nicolá Martin, französischstämmiger Libanese, der in der New Economy-Ära viel Geld mit seiner Computerfirma gemacht hatte und des hektischen Geschäftslebens müde geworden war. Der deshalb sein Geld genommen und sich damit den Ausstieg finanziert hatte. Pater Georg konnte diese Geisteshaltung verstehen, deshalb hatte er auch keinen Augenblick an der Geschichte gezweifelt.
    Nikolaj drehte sich um und ging zurück ins Haus. Mit langen Schritten durchquerte er den Wohnraum und betrat das große Badezimmer an der Rückseite des Hauses. Sein Blick streifte das Mosaik, von dem er Azizah erzählt hatte – ein Schriftornament von fast einem Quadratmeter Fläche. Dies war der zweite Grund, aus dem er das Haus gekauft hatte. Allein die Restaurierung dieses Raums hatte ihn beinahe ein Jahr gekostet. Er strich über die hölzernen Fenstergitter, dann ließ er sich auf ein Knie nieder und schob das Regal unter dem Waschbecken beiseite. Eine der Wandfliesen hatte er nur locker eingesetzt; dahinter verbarg sich ein Hohlraum. Nikolaj zog die Pappschachtel heraus, die er seit drei Jahren nicht mehr angerührt hatte. In Beirut gab es ein Schließfach mit ähnlichem Inhalt, und ein weiteres in einer Bank in Neapel. Er hatte die Depots kurz vor dem Kauf dieses Hauses eingerichtet – für einen Notfall, von dem er hoffte, dass er nie eintreten würde.
    Diese Schachtel hatte er beinahe verdrängt. Bis ihn für einen Lidschlag der Schrecken durchzuckt hatte, jemand könnte seine Spur gefunden haben. Jemand, der eine junge Frau unter dem Vorwand schickte, ihm eine Falle zu stellen.
    Nikolaj blätterte durch die Pässe, die sorgfältig in Klarsichthüllen verpackt waren, dazu jeweils Kreditkarten und Führerschein. Jewgeni Nazyrow, Angestellter eines russischen Bauunternehmens. Giacomo Sebastiano, Zahnarzt aus Rom. Ahmed Abi-Hachem aus Beirut, Händler für Weine und edle Spirituosen. Und natürlich Nicolá Martin, Ex-Computerspezialist. Vier Identitäten für knapp sechstausend Dollar, zwei davon so gut, dass sie auch einer näheren Überprüfung standhalten würden.
    Unter den Pässen lagen viertausend Dollar und weitere zweitausend Euro jeweils in Hundertern, sorgfältig gebündelt. Und darunter, am Boden der Schachtel, eine Beretta mit zwei Ersatzmagazinen.
    Nikolaj nahm die Waffe in die Hand und zog den Schlitten zurück. Das Gewicht war vertraut, das kühle Metall fühlte sich beruhigend an. Er stieß ein Magazin in den Griff, streckte probehalber den Arm aus und zielte über das Handgelenk. Dann, ohne sie zu entladen, legte er die Pistole zurück in die Kiste, schloss den Deckel und schob sie zurück in das Versteck hinter der Fliese. Er stand auf und zog den Untertisch zurück an seinen Platz. Kurz blickte er in den Spiegel und musterte sein Gesicht. Er hatte sich Bart und Haar wachsen lassen, um sein Aussehen dem der Einheimischen anzunähern. Einzig seine Augen verrieten die
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