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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge
Autoren: John Connolly
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geschlafen hatte, und versuchte, den Kopf genau auf die Stelle des Kissens zu legen, an der ihr Kopf gelegen hatte, erkennbar an dem ein wenig dunkleren Fleck auf dem Bezug.
    Diese neue Welt war zu schmerzlich für ihn, um damit fertig zu werden. Er hatte sich so sehr bemüht. Hatte seine Regeln befolgt. Hatte so sorgfältig gezählt. Er hatte sich an die Regeln gehalten, aber das Leben hatte gemogelt. Diese Welt war nicht wie die in seinen Geschichten. Dort wurde Gutes belohnt und Böses bestraft. Wenn man immer auf dem rechten Weg blieb und sich vom Wald fernhielt, konnte einem nichts passieren. Wenn jemand krank war, wie der alte König in einer der Geschichten, dann konnte er seine Söhne in die Welt hinausschicken, um das Heilmittel zu finden, das Wasser des Lebens, und wenn auch nur einer von ihnen tapfer und treu genug war, dann konnte das Leben des Königs gerettet werden. David war tapfer gewesen. Und seine Mutter erst recht. Doch am Ende hatte Tapferkeit nicht genügt. In dieser Welt wurde sie nicht belohnt. Und je mehr David darüber nachdachte, desto weniger wollte er in so einer Welt leben.
    Er hielt sich weiter an seine Regeln, wenn auch nicht mehr ganz so starr wie früher. Er begnügte sich damit, die Türklinken und Wasserhähne zweimal zu berühren, erst mit der linken Hand, dann mit der rechten, um auf eine gerade Zahl zu kommen. Er bemühte sich immer noch, am Morgen zuerst mit dem linken Fuß den Boden zu berühren, und genauso auf der Treppe, aber das war nicht weiter schwierig. Er war nicht sicher, was passieren würde, wenn er seine Regeln nicht wenigstens ansatzweise weiter befolgte. Womöglich würde dann seinem Vater etwas zustoßen. Vielleicht hatte er durch das Einhalten der Regeln das Leben seines Vaters gerettet, auch wenn es ihm bei seiner Mutter nicht gelungen war. Nun, da sie nur noch zu zweit waren, ging er besser kein Risiko ein. Da trat Rose in sein Leben, und die Anfälle begannen.
     
     
    Das erste Mal passierte es am Trafalgar Square, wo er mit seinem Vater zum Taubenfüttern war, nach dem Sonntagsessen im Popular Cafe an der Piccadilly. Sein Vater sagte, das Cafe würde bald schließen, was David traurig machte, denn es gefiel ihm richtiggut.
    Davids Mutter war seit fünf Monaten, drei Wochen und vier Tagen tot. An dem Tag hatte sich im Popular Cafe eine Frau zu ihnen an den Tisch gesetzt. Sein Vater hatte sie David als Rose vorgestellt. Rose war sehr dünn, mit langem, dunklem Haar und leuchtend roten Lippen. Ihre Kleider sahen teuer aus, und an ihren Ohren und ihrem Hals funkelten Gold und Diamanten. Sie behauptete, sie würde nur ganz wenig essen, aber sie verspeiste fast ihr ganzes Huhn, und danach war immer noch Platz für den Nachtisch. Irgendwie kam sie David bekannt vor, und es stellte sich heraus, dass sie die Verwalterin des Beinahe-Krankenhauses war, in dem seine Mutter gestorben war. Sein Vater erklärte David, Rose habe sich sehr, sehr gut um seine Mutter gekümmert, wenn auch, wie David bei sich dachte, nicht gut genug, um sie am Leben zu halten.
    Rose versuchte, mit David über die Schule und seine Freunde zu reden und darüber, womit er seine Abende verbrachte, aber David brachte kaum ein Wort über die Lippen. Es gefiel ihm nicht, wie sie seinen Vater ansah und dass sie ihn beim Vornamen nannte. Und wie sie seine Hand berührte, wenn er etwas Lustiges oder Kluges sagte. Und es gefiel ihm auch nicht, dass sein Vater sich in ihrer Gegenwart bemühte, etwas Lustiges oder Kluges zu sagen. Es war nicht richtig.
    Rose hakte sich bei seinem Vater ein, als sie das Restaurant verließen. David ging ein kleines Stück vor ihnen, und sie schienen ganz zufrieden zu sein, dass er vorneweg lief. Er wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, oder zumindest redete er es sich ein. Schweigend nahm er die Tüte mit Körnern von seinem Vater, als sie am Trafalgar Square ankamen, und lockte damit die Tauben an. Gehorsam näherten sich die Tauben mit ruckendem Kopf der neuen Futterquelle, die Federn fleckig vom Schmutz der Stadt, die Augen starr und stumpfsinnig. Sein Vater und Rose standen in der Nähe und unterhielten sich leise. Als sie dachten, er bekäme es nicht mit, sah David, wie sie sich verstohlen küssten.
    Da passierte es. Eben noch hatte David den Arm ausgestreckt, eine schmale Körnerreihe darauf und zwei ziemlich schwere Tauben, die auf seinen Ärmel pickten, und im nächsten Augenblick lag er flach auf der Erde, den zusammengerollten Mantel seines Vaters unter
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