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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge
Autoren: John Connolly
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der Bettdecke verfolgten, existierten sie im Grunde nicht in unserer Welt. Sie waren wie Samenkörner im Schnabel eines Vogels, die darauf warteten, auf die Erde zu fallen, oder wie Noten auf einem Blatt Papier, die sich danach sehnten, dass ein Instrument sie zum Klingen brachte. Sie schlummerten vor sich hin und hofften auf eine Gelegenheit, ihren Buchdeckeln zu entrinnen. Sobald jemand anfing, sie zu lesen, konnten sie sich verändern. Sie konnten sich in der Fantasie verwurzeln und den Leser verwandeln. Geschichten wollten gelesen werden, hatte seine Mutter ihm zugeflüstert. Sie brauchten es. Deshalb drängten sie sich aus ihrer Welt in unsere. Sie wollten, dass wir ihnen Leben gaben.
    Diese Dinge hatte seine Mutter zu David gesagt, bevor sie krank wurde. Oft hatte sie ein Buch in der Hand, während sie sprach, und strich mit den Fingerspitzen zärtlich über den Einband, so wie sie manchmal Davids Gesicht oder das seines Vaters berührte, wenn er etwas sagte oder tat, das sie daran erinnerte, wie sehr sie ihn liebte. Die Stimme seiner Mutter war für David wie ein Lied, in dem er immer wieder neue Improvisationen oder bis dahin ungehörte Feinheiten entdeckte. Als er älter wurde und Musik ihm zunehmend mehr bedeutete (wenn auch nie so viel wie die Bücher), erschien ihm die Stimme seiner Mutter nicht mehr wie ein Lied, sondern wie eine Sinfonie voll unzähliger Variationen über vertraute Themen und Melodien, die sich mit ihren Stimmungen und Launen veränderten.
    Als die Jahre vergingen, wurde das Lesen für David zunehmend zu einer einsamen Beschäftigung, bis die Krankheit seiner Mutter sie beide in seine frühe Kindheit zurückversetzte, nur mit vertauschten Rollen. Dennoch kam er, bevor sie krank wurde, oft leise in das Zimmer, in dem seine Mutter las, lächelte ihr zu (was sie stets erwiderte), setzte sich neben sie und beugte sich über sein Buch, sodass beide, obgleich jeder von ihnen in seiner eigenen Welt versunken war, Raum und Zeit miteinander teilten. Und wenn David ihr Gesicht beim Lesen betrachtete, wusste er, ob die Geschichte aus dem Buch in ihr lebendig geworden war und sie in sich hineingesogen hatte oder nicht; und dann dachte er wieder daran, was sie ihm über die Geschichten erzählt hatte und über die Macht, die sie über uns haben und wir über sie.
    Den Tag, an dem seine Mutter starb, würde David niemals vergessen. Er war in der Schule und lernte gerade (oder auch nicht), wie man ein Gedicht analysiert. In seinem Kopf schwirrte es von Daktylen und Pentametern, Namen wie von seltsamen Dinosauriern, die in einer längst untergegangenen Welt gelebt hatten. Da ging die Tür des Klassenzimmers auf, und der Schulleiter kam herein und trat auf den Englischlehrer zu, Mr. Benjamin (oder Big Ben, wie er von seinen Schülern genannt wurde, wegen seiner Größe und seiner Angewohnheit, die alte Taschenuhr aus den Falten seiner Weste zu ziehen und seinen aufsässigen Schülern mit tiefer, klagender Stimme zu verkünden, wie langsam doch die Zeit verging). Der Schulleiter flüsterte Mr. Benjamin etwas zu, woraufhin dieser mit ernster Miene nickte. Er wandte sich zur Klasse um, sein Blick kreuzte Davids, und als er sprach, war seine Stimme sanfter als sonst. Er rief Davids Namen und sagte ihm, er sei entschuldigt, er solle seine Tasche packen und mit dem Schulleiter gehen. Da wusste David, was geschehen war. Er wusste es, bevor der Schulleiter ihn ins Krankenzimmer gebracht hatte. Er wusste es, bevor die Krankenschwester mit einer Tasse Tee erschien, die David trinken sollte. Er wusste es, bevor der Schulleiter sich vor ihn stellte, noch immer streng in seinem Äußeren, aber sichtlich bemüht, freundlich zu dem armen Jungen zu sein. Er wusste es, bevor die Tasse seine Lippen berührte und die Worte ausgesprochen wurden und der Tee ihm den Mund verbrannte und ihn daran erinnerte, dass er noch lebte, während seine Mutter nun für ihn verloren war.
    Selbst die unablässig eingehaltenen Regeln hatten nicht ausgereicht, um sie am Leben zu halten. Später fragte er sich, ob er eine davon nicht richtig befolgt hatte, ob er sich an dem Morgen vielleicht vertan hatte, oder ob es noch eine Regel gab, die ihm nicht eingefallen war und die alles hätte ändern können. Doch das zählte jetzt nicht mehr. Sie war fort. Er hätte zu Hause bleiben sollen. Er hatte sich immer Sorgen um sie gemacht, wenn er in der Schule war. Denn wenn er nicht in ihrer Nähe war, hatte er keine Kontrolle über ihr Dasein. In der
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