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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge
Autoren: John Connolly
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Verlust ihres Ansehens abgefunden. Sie waren jetzt weniger wert als Geschichten, denn von Geschichten erwartete man bis zu einem gewissen Grad, dass sie unwahr und erfunden waren, aber diese Bücher waren für Größeres geschaffen worden. Männer und Frauen hatten hart daran gearbeitet, hatten sie mit der gesamten Summe all dessen gefüllt, was sie über die Welt wussten und glaubten. Dass sie sich geirrt hatten und dass die Schlüsse, die sie aus ihrem Wissen gezogen hatten, jetzt kaum noch einen Wert besaßen, war für die Bücher unerträglich.
    Ein großes Buch, das auf der Grundlage einer genauen Untersuchung der Bibel behauptete, das Ende der Welt käme im Jahr 1783, war mehr oder weniger dem Wahnsinn verfallen und weigerte sich zu akzeptieren, dass das aktuelle Datum nach dem Jahr 1782 lag, denn wenn es das täte, müsste es zugeben, dass sein Inhalt falsch war und es somit höchstens noch als Kuriosität durchging. Ein schmaler Band über die derzeitige Bevölkerung des Mars, verfasst von einem Mann mit einem großen Fernrohr und Augen, die die Linien von Kanälen sahen, wo nie Kanäle gewesen waren, faselte unbeirrt davon, dass die Marsianer sich unter die Oberfläche zurückgezogen hätten und dort jetzt heimlich große Maschinen bauten. Es befand sich im Moment zwischen mehreren Büchern über die Taubstummensprache, die den ganzen Unsinn zum Glück nicht hören konnten.
    Doch David entdeckte auch Bücher, die ganz ähnlich waren wie seine eigenen: dicke Bände mit Märchen und Volkserzählungen, deren Bilder noch kräftig und voller Farbe waren. Und mit diesen Büchern beschäftigte sich David in den ersten Tagen in seinem neuen Zuhause. Während er auf dem Fenstersitz lag und las, spähte er immer wieder hinunter auf den Wald, als könnten dort jeden Moment die Wölfe und Hexen und Ungeheuer aus den Geschichten auftauchen, denn die Beschreibungen in den Büchern passten so genau auf den Wald hinter dem Haus, dass man hätte schwören können, es sei ein und derselbe – ein Eindruck, der noch durch den Aufbau der Bücher verstärkt wurde, denn einige der Geschichten waren von Hand hinzugefügt worden, und die Bilder darin hatte jemand mit großem Talent gemalt. Doch David fand nirgends einen Namen, der ihm verriet, von wem diese Ergänzungen stammten, und einige der Geschichten waren ihm fremd, obgleich er darin das Echo sehr vertrauter Geschichten vernahm.
    In einer Geschichte wurde eine Prinzessin von einem Zauberer dazu gezwungen, die ganze Nacht zu tanzen und den ganzen Tag zu schlafen, doch anstatt von einem Prinzen oder einem klugen Diener gerettet zu werden, starb die Prinzessin, und ihr Geist kehrte auf die Erde zurück und quälte den Zauberer so sehr, dass er sich durch einen Spalt ins Erdinnere stürzte und dort in den Flammen verbrannte. Ein kleines Mädchen wurde von einem Wolf bedroht, als es durch den Wald ging, und als es vor ihm weglief, begegnete es einem Förster mit einer Axt, aber in dieser Geschichte tötete der Förster den Wolf nicht einfach nur und brachte das Mädchen zu seiner Familie zurück, oh nein. Er hackte dem Wolf den Kopf ab, dann brachte er das Mädchen in seine Hütte im dichtesten, dunkelsten Teil des Waldes und behielt die Kleine dort, bis sie alt genug war, ihn zu heiraten. Und sie wurde seine Braut, getraut von einer Eule, obwohl sie in all den Jahren, die er sie gefangen gehalten hatte, niemals aufgehört hatte, um ihre Eltern zu weinen. Sie gebar ihm Kinder, und der Förster brachte ihnen bei, Wölfe zu jagen und Menschen zu fangen, die sich von den Wegen im Wald entfernten. Die Männer sollten sie töten und ausrauben, die Frauen aber sollten sie zu ihm bringen.
    David las Tag und Nacht in den Geschichten, in seine Decke gehüllt, denn in Roses Haus war es immer kalt. Der Wind blies durch die Ritzen in den Fensterrahmen und den schlecht schließenden Türen und brachte die Seiten der aufgeschlagenen Bücher zum Rascheln, als suche er darin nach dringend benötigtem Wissen. Das dichte Gewirr aus Efeu, das die Mauern des Hauses überzog, hatte sich im Lauf der Jahrzehnte durch die Ziegelsteine gebohrt, sodass einzelne Ranken aus den Ecken von Davids Zimmer herabkrochen oder sich an der Unterseite der Fensterbank festhielten. Anfangs hatte David noch versucht, sie mit seiner Schere zurückzuschneiden, aber nach ein paar Tagen waren sie nachgewachsen, wie es schien noch dichter und länger als zuvor, und sie klammerten sich nur umso hartnäckiger an das Holz und
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