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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen
Autoren: Ray Bradbury
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hob den Kopf und schnüffelte in Richtung auf Wills Haus hinüber. "Nein, nein. Schön, vielleicht werden ein paar Funken von der Dachrinne sprühen, aber das richtige Theater findet hier bei den Nightshades statt. So!" 
    Der Vertreter kam rasch über den Rasen zurück und griff nach seiner gewaltigen Ledertasche.
    "Muß mich beeilen. Gewitter kommt bald. Wart nicht zu lange, Jim. Sonst – bums! Dann finden sie dich, und die Münzen, das Taschenmesser und der andere Kram in den Taschen ist zu einem Klumpen zusammengeschmolzen, das Silber läuft dir die Hosenbeine runter. Und noch etwas: Wird ein Junge vom Blitz erschlagen, dann heb sein Augenlid hoch. Auf seiner Pupille kannst du die letzte Szene eingeprägt finden, die er erblickt hat, fein und winzig wie das Vaterunser auf einem Stecknadelkopf. Ein Foto, wie der Blitz herunterpfeift und deine Seele die glühende Treppe raufholt! Beeil dich, mein Junge! Hol Hammer und Nägel, sonst bist du vor dem Morgengrauen tot." 
    Der Vertreter schwang seine Tasche mit den Eisenstäben in der Hand und lief den Weg entlang.
    Blinzelnd hob er den Blick zum Himmel, dem Dach, den Bäumen. Dann schloß er die Augen im Gehen, sog schnaufend die Luft durch die Nase ein und murmelte: "Ja, wird schlimm. Kann's genau fühlen. Noch weit weg – aber es kommt. Schnell, immer schneller..." 
    Dann war der Mann im gewitterdunklen Mantel verschwunden. Den wolkenfarbenen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen. In den Bäumen raschelte es, der Himmel sah plötzlich sehr alt aus, und die beiden Jungen standen da, die Nase in den Wind erhoben. Roch es schon nach Elektrizität? Der Blitzableiter lag zwischen ihnen am Boden.
    "Jim, steh nicht so rum", sagte Will. "Euer Haus trifft's, hat er gesagt. Du wirst doch den Blitzableiter annageln, wie?" 
    Jim lächelte. "Nein. Warum soll ich uns den ganzen Spaß verderben?" 
    "Spaß! Bist du übergeschnappt? Ich hol die Leiter, du suchst inzwischen Hammer, Nägel und Draht." 
    Aber Jim regte sich nicht. Will rannte davon und kam gleich darauf mit der Leiter wieder.
    "Jim, denk doch an deine Mutter. Soll sie verbrennen?" 
    Will kletterte allein an der Seite des Hauses hoch und schaute sich um. Langsam trat Jim an die Leiter heran und kam ihm nach.
    In der Ferne, über den wolkenverhangenen Bergen, grollte der Donner.
    Oben auf Jim Nightshades Dach roch die Luft frisch und rauh. Selbst Jim mußte das zugeben.

 Zweites Kapitel

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    Nichts auf der ganzen Welt kommt Büchern gleich, die von Wasserkuren, tausendfachem Tod oder weißglühenden Lavaströmen handeln, die sich über Burgmauern auf komische Figuren und Marktschreier ergießen.
    Sagte Jim Nightshade, und etwas anderes las er nicht. Seine Bücher handelten davon, wie man eine Bank überfällt, wie man Katapulte baut oder schwarze Fledermauskostüme für den Mummenschanz macht.
    Jim konnte reden.
    Und Will, der konnte zuhören.
    Sie hatten den Blitzableiter auf Jims Dachfirst genagelt; Will war stolz, Jim schämte sich dieses Zeichens von Feigheit, wie er sagte. Es war jedenfalls spät geworden und höchste Zeit für ihren wöchentlichen Gang zur Bibliothek.
    Wie alle Jungen gingen sie nie irgendwohin, sondern sie machten ein Ziel aus und schossen dann darauf los, was-haste-was-kannste. Keiner von beiden gewann.
    Keiner wollte gewinnen. Sie wollten nur als Freunde immer weiter und weiter rennen, Seite an Seite, Schatten an Schatten. Ihre Hände klatschten gleichzeitig gegen die Tür der Bibliothek, gleichzeitig durchrissen sie Zielbänder beim Wettlauf, ihre Tennisschuhe zogen parallele Spuren über den Rasen, durch Büsche, Bäume hinauf. Keiner verlor, und gemeinsam gewannen sie und sparten sich ihre Freundschaft für andere Zeiten und andere Verluste auf.
    So war es auch an diesem Abend; der Wind – erst warm, dann kühler – wehte sie am Abend um acht Uhr in die Stadt. Sie spürten Schwingen, Federn an Fingern und Ellbogen, dann blies sie plötzlich eine neue Luftströmung, ein neuer, klarer Herbstwind, geradewegs auf die Bibliothek zu.
    Die Treppe hinauf, drei, sechs, neun, zwölf Stufen! Bums! Ihre Hände klatschten an die Tür.
    Will und Jim lachten einander an. Alles war herrlich – der windgepeitschte Oktoberabend draußen und drin die Bibliothek, die mit grünbeschirmten Lampen und Papyrusstaub auf sie wartete.
    Jim lauschte. "Was ist das denn?"
    "Was? Der Wind?"
    "Wie Musik..." Jim blinzelte zum fernen Horizont.
    "Hör keine Musik."
    Jim
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