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Das blaue Zimmer

Das blaue Zimmer

Titel: Das blaue Zimmer
Autoren: Rosamunde Pilcher
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Ja.“
    „Hat man große Angst, wenn man stirbt?“
    „Das weiß ich nicht.“ Sie lächelte ihr vertrautes Lächeln, be lustigt und spitzbübisch, das so erstaunlich in diesem alten, runzligen Gesicht war. „Ich bin noch nie gestorben.“
    „Aber… “ Er sah ihr fest in die Augen. Kein Mensch konnte ewig leben. „Aber hast du denn keine Angst?“
    Die Großmutter nahm Tobys Hand. „Weißt du“, sagte sie, „ich habe mir immer vorgestellt, daß das Leben eines jeden Menschen wie ein Berg ist. Und jeder muß allein auf diesen Berg steigen. Du beginnst im Tal, es ist warm und sonnig, ringsum sind Weiden und Bächlein, Butterblumen und sonst noch allerlei. Das ist deine Kindheit. Und dann fängst du an zu steigen. Allmählich wird der Berg etwas steiler, es geht sich nicht mehr so leicht, aber wenn du hin und wieder stehen bleibst und dich umschaust, ist die wunderbare Aussicht jede Anstrengung wert. Und ganz oben auf dem Berg, wo Schnee und Eis in der Sonne glitzern und alles unglaublich schön ist, das ist der Gipfel, die große Leistung, das Ende des langen Auf stiegs.“
    Bei ihr hörte es sich wundervoll an. Voller Liebe zu ihr sagte er: „Ich will nicht, daß du stirbst.“
    Die Großmutter lachte. „O mein Liebling, mach dir deswe gen keine Sorgen. Ich werde euch allen noch lange zur Last fal len. So, und nun gibt’s für jeden von uns eine Pfefferminz creme, und dann legen wir zusammen eine Patience, was hältst du davon? Es ist so schön, daß du mich besuchst. Mir war all mählich ein bißchen langweilig, so mit mir allein… “
     
     
    Später sagte er ihr gute Nacht und verließ sie, ging sich die Zähne putzen und dann in sein Zimmer. Er zog die Gardinen zurück. Es hatte zu regnen aufgehört, und im Osten ging der Mond auf. Im Halblicht sah er die Koppel und die Umrisse der Schafe und ihrer Lämmer unter den schützenden Ästen der alten Kiefer versammelt. Er zog seinen Bademantel aus und ging ins Bett. Seine Mutter hatte eine Wärmflasche hineingetan, das war ein Genuß. Er legte sie sich auf den Bauch, lag mit weit of fenen Augen im sanften, warmen Dunkel und dachte nach.
    Er fand, daß er heute eine Menge gelernt hatte. Über das Leben. Er hatte bei einer Geburt geholfen und, bei Vicky und Tom, den Beginn einer neuen Beziehung beobachtet. Viel leicht würden sie heiraten. Vielleicht auch nicht. Wenn sie hei rateten, würden sie Babys bekommen. (Er wußte schon, wie die Babys entstanden, weil Mr. Sawcombe es ihm einmal im Verlauf eines männlichen Gespräches über Viehzucht erklärt hatte.) Und er, Toby, würde dann Onkel.
    Und dann der Tod… Der Tod ist ein Teil des Lebens, hatte seine Mutter gesagt. Und Willie hatte gesagt, der Tod sei ein Geheimnis zwischen Gott und ihm. Aber Granny glaubte, der Tod sei der glitzernde, strahlende Gipfel des persönlichen Berges eines jeden Menschen, und das war vielleicht das Beste, das Tröstlichste von allem.
    Mr. Sawcombe war auf seinen Berg gestiegen und hatte den Gipfel erreicht. Toby stellte ihn sich vor, wie er triumphierend dort stand. Er trug eine Sonnenbrille, weil der Himmel so hell war, und seinen besten Sonntagsanzug, und vielleicht hielt er eine Fahne in der Hand.
    Toby war auf einmal sehr müde. Er schloß die Augen. Eine zweihundertprozentige Lammung. Mr. Sawcombe wäre sehr zufrieden gewesen. Wie schade, daß er Daisys Zwillinge nicht mehr erlebt hatte.
    Aber als der Schlaf ihn langsam umfing, lächelte Toby in sich hinein, denn ohne besonderen Grund war er sich plötzlich ganz sicher, daß sein alter Freund, wo immer er jetzt sein mochte, es längst wußte.

Ein Tag zu Hause
     

     
     
     
     
     
     
    N ach einer Geschäftsreise, die fünf europäische Haupt städte, sieben Mittagessen mit Direktoren und zahllose auf Flughäfen verbrachte Stunden umfaßte, flog James Harner an einem Mittwochnachmittag Anfang April aus Brüssel in Heathrow ein. Natürlich regnete es. Er war am Vorabend erst gegen zwei Uhr ins Bett gekommen, seine pralle Aktenmappe wog schwer wie Blei, und obendrein schien er sich erkältet zu haben.
    Robert, der Fahrer der Werbeagentur, holte ihn am Flugha fen ab, und Roberts glattrasiertes Gesicht war das erste Erfreu liche, das James an diesem Tag zu sehen bekam. Robert hatte seine Schirmmütze auf, nahm James seinen Koffer ab und sagte, er hoffe, er habe eine angenehme Reise gehabt.
    Sie fuhren direkt zum Büro. Nachdem James einen flüchti gen Blick auf seinen Schreibtisch geworfen und seiner Sekretä rin den
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