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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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was ich nicht verdiene.
    »Ich liebe dich. Ich liebe dich, Liebling. Ich liebe dich, Art. Ich liebe dich, Arthur Lockwood. Ich liebe dich.«
    Brennt im Mund, brennt wie Teufel. So oft habe ich es noch nie gesagt, und es verbrennt mich.
    Aber ich nehme seine Hand, und ich küsse ihn.
    Ssschhh.

EIN JUNGE SITZT vor seinem Schlafzimmer, lehnt sich an die Wand, ein Knie angewinkelt, das andere Bein ausgestreckt zur anderen Seite des Flurs. Er starrt auf seine Schuhe, fast weiße Converse All Star Hi-Tops. Er hat sie selbst gekauft, und sie gefallen ihm – wie sie zugleich cool und schäbig und lachhaft wirken: Wenn er sie anhat, ist er nah dran, all das mit Absicht auch zu sein, und er gehört sich selbst. Vorher, als er eigentlich noch ein Kind war, schauten die Leute immer auf seine Füße – seine langen, langen Füße – und sagten: »Du wirst schon noch reinwachsen.« Und davon hatte er die Nase voll. Das hier ist besser – sein eigener Witz – er wird groß und größer, mächtiger, wie eine Bedrohung.
    Der Junge ist still, lauscht vielleicht, die Hände locker auf dem Teppich rechts und links neben der Hüfte, als wolle er sie bewusst unter Kontrolle halten, nicht zu Fäusten ballen. In seinem Zimmer hört man seine Mutter Dinge zerbrechen.
    Das kommt vor.
    Es ist nicht seine Schuld.
    Es ist nicht ihre Schuld.
    Alle sechs oder sieben Monate ist es inzwischen einfach notwendig. Sie muss so viel von seinen Sachen zerstören wie möglich.
    Er versucht also, keinen Besitz zu erwerben, oder ihn verschwinden zu lassen, unter Bodendielen zu schieben, in zugeklebten Kisten zu vergraben – aber am Besten ist es, sich gar nicht erst damit abzugeben. Aus irgendeinem Grund beschädigt sie nie die Dinge, die er anhat oder bei sich trägt. Und die Steine, die er von der Insel aufbewahrt hat, die schmeißt sie bloß herum, hat sie noch nicht zerbrochen, obwohl er seinen Lieblingsstein immer in der Hosentasche hat, nur um sicherzugehen – den mit der Maserung in Braun und Dunkelrosa und Sepia, den Strandachat. Den Glücksstein.
    Er wartet, dass sie fertig wird. Dann wird sie in die Küche gehen und weinen, und er wird aufräumen.
    Er nimmt den Stein und hält ihn wie einen Wunsch. Er leiht ihm seine Wärme.
    Er weiß nicht, dass er in dreißig Jahren in Pimlico sein und es regnen wird – die ganze Nacht geschüttet haben wird – und dass er inzwischen meistens Mr Lockwood sein wird, viel seltener Arthur und fast nie Art – nur ein Mensch wird ihn Art nennen, und sie wird nicht bei ihm sein.
    Und er wird in einer durchweichten Jacke am Rand des Bürgersteigs stehen, seine Füße zwischen all den wandernden Farben der Ladenschilder, der Farbenverwirrung, und er wird eine Dose halten, ihr seine Wärme leihen – dunkle, blaue Emaillestreifen um gedrechseltes Messing, das schwach glänzt, wenn es sich in seiner Hand neigt – wirkt wie ein Requisit, ein verdächtiger Behälter für hinterhältige Bühnentricks. Doch Mr Lockwood wird kein Publikum haben, niemand wird sehen, wie er den Deckel abschraubt und die Dose in die Gosse leert, in das schnell und tief fließende Wasser und Dunkel schüttet.
    Es wird Mr Lockwood nicht glücklich machen, sie auszuschütten und dann die Urne abzustellen, zu warten, bis der Regen seine Hände ein wenig saubergewaschen hat, und dann wegzugehen, sie zu verlassen. Vielleicht hat er das Gefühl, etwas Schwieriges losgeworden zu sein, das er nun nicht mehr schleppen muss – aber vielleicht ist das auch nur die Urne: schwer und unhandlich, solides Metall, die respektvolle Option, ziemlich teuer.
    Der Junge, der den Stein warm im Herzen seiner Handfläche birgt, sollte das nicht wissen – es würde ihn erschrecken. Das sollte er nicht vorhersagen können.
    Wäre dieses Buch bei ihm, könnte bei ihm sein – ihm Gesellschaft leisten, das Blau treulich an seiner Haut – dann dürfte er es nicht lesen, noch nicht.
    Also würde er es natürlich lesen wollen, denn Verbotenes ist immer das Beste. Unter das Tuch zu schauen, unter die Laken, hinter den Vorhang, um die Tricks der Dinge herauszufinden – dem kann er nicht widerstehen. Menschen lieben es zu schauen, und er ist ein Mensch.
    Das letzte Mal, als sein Vater zurückkam, sind sie öfter ins Wachsfigurenkabinett gegangen – kein gutes – ein staubiges, kleines Museum – die Kleider passten den Figuren nicht richtig, und überall roch es so seltsam säuerlich, dass man fast denken konnte, Überreste seien verwendet worden: echte
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