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Das Bildnis der Novizin

Titel: Das Bildnis der Novizin
Autoren: Laurie Albanese Laura Morowitz Gertrud Wittich
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junge Frau und richtet sich halb auf. Ihr Haar, das in einem Netz zusammengefasst gewesen war, löst sich und fällt wie ein silbern schimmernder Wasserfall über ihre Schultern. »Mein Gott«, schluchzt sie, »du darfst nicht zulassen, dass der Generalabt mir das antut, ich flehe dich an, Schwester.«
    Die Alte hat schon viele Mütter weinen sehen und sich vor langer Zeit geschworen, sich davon nicht mehr erschüttern zu lassen.
    »Wir haben dein Kind auf die Welt gebracht, einen gesunden Knaben. Aber damit ist die Sache erledigt. Wir werden kein Wort mehr darüber verlieren, Schwester. Es ist am besten so«, fügt sie begütigend hinzu. »Du wirst sehen.« Damit schließt sie die Tür hinter sich und lässt die herzzerreißend schluchzende junge Frau allein in der Kammer zurück.
    Zurück in ihrer schmalen Zelle, zündet die Hebamme zittrig eine einzelne Kerze an, nimmt ihren Schleier ab und lässt ihre grauen Zöpfe, die ihr bis zur Hüfte reichen, über den Rücken fallen. Mit müden Fingern öffnet sie die Zöpfe und massiert ihre Kopfhaut. Sie greift zu einem Fläschchen Lavendelöl aus eigener Herstellung und reibt sich mit ein, zwei Tropfen die Hände ein, massiert sie, knetet sie, dann verteilt sie das Öl auf ihrer Stirn und im Nacken. Die Haut an diesen Stellen beginnt angenehm zu kribbeln. Ein kleiner Luxus, der einzige, den sie sich gönnt.
    Die Zelle ist klein, wie es die Regeln des Augustinerordens vorschreiben. Schon erfüllt ein intensiver Lavendelduft die enge Klause. Der Raum bietet lediglich Platz für eine schmale Pritsche, ein grob zurechtgezimmertes Tischchen und einen Hocker. Auf dem Tisch liegt ein abgegriffenes Brevier, das Stundenbuch der alten Nonne. Seit fünfzig Jahren ist dies ihr Zuhause. Anfangs hatte sie es in dem erstickend engen Raum kaum ausgehalten, hatte sich erst dorthin zurückgezogen, wenn sie zum Umfallen müde war. Doch nun ist die alte Nonne froh um dieses winzige Stückchen Privatsphäre, diesen Raum, wo sie mit ihren Gedanken und Gebeten allein sein kann.
    »Lieber Gott«, murmelt sie und tritt an das Tischchen. »Ist dies wirklich Dein Wille? Ist dies wirklich das Beste? Sanctus Christus, gesegnet sei der Herr.«
    Sie muss an den Ausdruck auf dem Gesicht der jungen Frau denken: Angst, Qual und Pein.
    Sie ist nicht die erste unverheiratete junge Frau, deren unehelichem Kind die alte Hebamme auf die Welt geholfen hat. Aber noch nie zuvor ist ihr die Fleischessünde einer anderen so nahe gegangen.
    Sie stellt ihre Kerze auf dem Tischchen ab und greift nach einem unbeschriebenen Pergament. Müde lässt sie sich auf den schweren Hocker sinken. Sie taucht einen Gänsefederkiel in ein Fässchen Indigotinte – ebenfalls aus eigener Herstellung – und beginnt ihren Brief an den Generalabt Ludovico di Saviano. Ruhig beschreibt sie die Geschehnisse der Nacht, ihre Feder kratzt rhythmisch übers Pergament.
    »Früh an diesem Morgen, dem Hochfest unseres geliebten Augustinus, wurde durch meine Hand ein männliches Kind geboren. Es war eine schwere Geburt, doch die Mutter ist jung und wird genesen. Gemäß Eurer Instruktionen wurde der Mutter weder erlaubt ihr Kind zu halten noch ihm einen christlichen Namen zu geben. Es wurde getauft und in die Obhut einer Amme gegeben, die sich seines leiblichen Wohls annehmen wird. Kein Vermerk wurde gemacht.«
    Sie berührt unwillkürlich ihre Stirn, ihre Brust, schlägt ein Kreuzzeichen. Dann schreibt sie weiter.
    »Nabelschnur und Nachgeburt wurden außerhalb der Klostermauern, im Obsthain, unter dem alten Birnbaum vergraben. Der Knabe hatte keine Glückshaube, doch befindet sich ein kreuzförmiges Muttermal auf einer Pobacke des Kindes.«
    Und dies ist eine Tatsache, die sich nicht leugnen lässt, redet sich die Alte zu. Ein Muttermal ist ein Muttermal.
    »Der Knabe ist eine unschuldige Seele, und ich vertraue darauf, dass er in ein gutes Heim, zu christlichen Eltern kommt, die ihn wie ihr eigen Fleisch und Blut aufziehen werden. Ich tat dies nach Eurem Willen.«
    Sie liest noch einmal durch, was sie geschrieben hat, und ist zufrieden. Dann versiegelt sie das Pergament mit Wachs, das sie über der Flamme ihrer einsamen Kerze erhitzt. Als Siegelabdruck benutzt sie ihren Daumen, das einzige Siegel, das einer Nonne gestattet ist.
    Jedes Wort, das die Hebamme an den Generalabt geschrieben hat, ist wahr. Bis auf eines: Im Herzen seiner Mutter hat das Kind sehr wohl einen Namen.
    »Lieber Gott«, flüstert die junge Frau in die rauchgeschwängerte
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