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Das Bett

Titel: Das Bett
Autoren: Martin Mosebach
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fragte sie mit erhobener Stimme.
    »Stephan ist nicht gekommen«, sagte mein Vater, »er hat abgesagt, er ist schon auf dem Weg nach Hause.«
    |502| Meine Tante ballte die Fäuste und rief: »Das stimmt nicht. Ihr versteckt ihn hier, er sitzt unter dem Tisch, ich höre ihn doch die ganze Zeit sprechen.« Sie machte dabei keine Anstalten, etwa unter dem Tisch nachzusehen, sie bückte sich nicht, sondern sah uns nur mit flammenden Augen an und forderte eine Antwort auf ihre unerhörte Anschuldigung, es war, als erhebe sie ihre Klage nur, um von uns eine Antwort darauf zu erhalten. Was sie erhielt, konnte ihr freilich nicht genügen. Die freundlichen Appelle des Monsignore und meines Vaters an ihre Vernunft ließen sie weiß werden vor Wut. Ihre Stirnader trat wie ein Muskel über der Nasenwurzel hervor.
    Meine Mutter fand das richtige Wort; ein Wort aus der Sphäre, nach dem ihre Schwester so heftig verlangt hatte. »Stephan ist im Bett«, sagte meine Mutter im selbstverständlichsten Tonfall von der Welt, »geh du auch ins Bett.« Meine Tante hörte meiner Mutter mit offenem Mund zu. Dann entspannte sich ihr Gesicht, sie lächelte und ging, ohne sich umzuwenden, barfuß in ihr Zimmer zurück. Wir hatten diese Gabe meiner Mutter schon bei Genofefa Hauff kennengelernt, sie blieb dennoch erstaunlich. Die Tischgesellschaft schwieg befangen und sah auf ihre Suppenteller hinab.
    Sein gesellschaftliches Pflichtgefühl ließ Monsignore Eichhorn die Stille unterbrechen und das Gespräch wieder in allgemeine Bahnen lenken. »Ich habe in der letzten Zeit wieder viel über die Erbsünde nachgedacht«, sagte er und wandte sich liebenswürdig meinem Vater zu, als wolle er ihm sagen: »Ich habe in der letzten Zeit viel über Ihre Cousine Ilse nachgedacht.« Mein Vater hatte eine Art, Aufmerksamkeit zu bezeigen, die der Redewendung »die Ohren spitzen« sehr nahe kam, da er dabei die Augenbrauen in die Höhe zog und zugleich die Ohren nach hinten bewegte, so daß ich immer glaubte, in dieser Bewegung der Ohren liege der Beginn ihres Spitzwerdens. Meine Mutter erhob keinen Einspruch gegen diese Worte, da sie noch an den Auftritt meiner Tante dachte und vielleicht auch glaubte, der Priester wolle auf dem Weg über die Erbsünde etwas Erläuterndes zu dem Verhalten meiner Tante sagen. »Die Widerstände, die der |503| moderne Mensch gegen den Gedanken der Erbsünde empfindet, sind doch ganz engstirnig«, fuhr er fort, »die Erbsünde ist ja auch gar kein originär christlicher Gedanke. Bei den frommen Juden ist zum Beispiel die erste Sünde jedes Menschen der Tritt, den er als Säugling der Brust seiner stillenden Mutter versetzt – im Grunde doch ein ganz ähnlicher Gedanke.«
    »Was für ein Unsinn«, sagte meine Mutter, die jetzt bemerkte, daß der Monsignore gar nicht über meine Tante reden wollte, und der der Begriff der Erbsünde nicht dadurch plausibler wurde, daß sich in anderen Religionen etwas ähnliches finden sollte. »Ein Kind tritt doch seine Mutter nicht auf die Brust.«
    »Natürlich tritt ein Kind seine Mutter auf die Brust«, sagte mein Vater, »sicher nicht absichtlich, aber darauf kommt es doch hier nicht an. Das ist symbolisch gemeint.«
    »Ein Kind strampelt, aber tritt nicht«, sagte meine Mutter, »solche Symbole sind zu hoch für mich.«
    Die Stimmen verwirrten sich. Der Priester und mein Vater versuchten gemeinsam, meiner Mutter zugleich recht und unrecht zu geben, meine Mutter hingegen verwahrte sich mit wachsender Heftigkeit dagegen, gemaßregelt und, wie sie sagte, mit Gewalt überzeugt zu werden. Es gab noch andere Dinge zu essen an diesem Mittag, die Stimmen dämpften sich bald, weil man fürchtete, meine Tante zu beunruhigen und wieder aus ihrem Zimmer herauszulocken.
    Die Unruhe, die sich um meine Tante und um Stephan Korn verbreitet hatte, war mir nicht verborgen geblieben. Ich spürte wohl, daß sich zwischen den beiden etwas entwickelt hatte und daß diese allmähliche Entwicklung ein reißender Strom geworden war, der in einem Wasserfall endete, und ich merkte auch, daß Stephans Abreise und dann bald danach auch die Abreise meiner Tante etwas Irreversibles enthielten. Stephan war nun in Amerika, weiter weg als auf dem Mond, den ich jedenfalls noch sehen konnte, wenn er über den Kastanien des Hinterhofes aufging, und meine Tante schlug hinfort in einem Haus ihren Wohnsitz auf, in dem, wie mir meine Eltern versicherten, »gute |504| Menschen« für sie sorgen würden. Dennoch weigerte ich mich,
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