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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop
Autoren: Philip Pullman
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gewann und dann plötzlich wieder verlor! Ich konnte es doch so gut - ich sprang von einer symbolischen Bedeutung zur anderen und erkannte alle nur denkbaren Verbindungen - es war wie ... « Sie lächelte und fuhr dann fort: »Ja, es war wie bei einem Affen, der in einem Baum turnt, alles ging so rasch. Und plötzlich war alles weg. Nichts ergab mehr einen Sinn. Selbst an einfache Bedeutungen konnte ich mich nicht mehr erinnern, abgesehen von den ganz simplen wie ein Anker, der Hoffnung bedeutet, oder ein Schädel, der für Tod steht. Doch die viele n tausend anderen Bedeutungen ... waren wie weggeblasen.«
    »Sie sind nicht weg«, widersprach Dame Hannah. »Die Bücher, in denen sie aufgeführt sind, stehen alle in der Bodleiana. Das ganze gelehrte Wissen ist jederzeit greifbar.«
    Dame Hannah und der Rektor hatten in Sesseln zu beiden Seiten des Kamins Platz genommen, während Lyra auf dem Sofa zwischen ihnen saß. Außer der Lampe neben dem Rektor gab es keine Beleuchtung, doch in ihrem Licht waren die Gesichter der beiden alten Leute deutlich zu erkennen. Lyra ertappte sich, wie sie Dame Hannahs Gesicht betrachtete. Freundlich, dachte Lyra, scharfsinnig und weise, doch was in diesen Zügen sonst geschrieben stand, das konnte sie genauso wenig lesen wie die Symbole des Alethiometers.
    »Ja, Lyra«, fuhr der Rektor fort. »Wir müssen uns nun Gedanken über deine Zukunft machen.«
    Seine Worte ließen sie frösteln, aber sie fasste sich und richtete sich auf.
    »Die ganze Zeit, in der ich fort war«, sagte Lyra, »habe ich nie darüber nachgedacht. Ich habe immer nur in der Gegenwart gelebt. Lange Zeit dachte ich, dass es für mich überhaupt keine Zukunft gäbe. Und nun ... ja, nun habe ich ein ganzes Leben vor mir, aber keine ... keine Vorstellung, was ich damit anfangen soll. Das ist so wie mit dem Alethiometer, ich habe es und kann es nicht lesen. Ich denke, dass ich arbeiten muss, weiß aber nicht, was. Meine Eltern waren wahrscheinlich reich, aber ich wette, sie haben nie daran gedacht, ein Testament zu hinterlassen. Sicherlich haben sie sowieso ihr ganzes Geld auf die eine oder andere Weise aufgebraucht. Selbst wenn ich einen Erbanspruch hätte, wäre nichts für mich übrig geblieben. Ich weiß es nicht, Sir. Ich bin nach Jordan zurückgekehrt, weil das früher einmal mein Zuhause war, wohin hätte ich sonst gehen sollen. Sicher, ich könnte bei König Iorek Byrnison auf Svalbard leben, und Serafina Pekkala würde mich in ihren Hexenclan aufnehmen, aber ich bin weder ein Bär noch eine Hexe, daher würde ich nicht richtig hineinpassen, so sehr ich die beiden auch mag. Vielleicht würden mich die Gypter zu sich nehmen ... Aber eigentlich weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich ehrlich verloren.«
    Die beiden Erwachsenen schauten sie an: Lyras Augen glänzten mehr als sonst, doch hielt sie ihr Kinn hoch, wie sie es von Will gelernt hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auf Dame Hannah wirkte sie stolz und zugleich verloren, und dafür bewunderte sie das Mädchen. Der Rektor sah noch etwas anderes - er sah, dass Lyra nicht mehr die unbewusste Anmut eines Kindes besaß und wie unbehaglich sie sich im Körper einer Heranwachsenden fühlte. Doch er liebte das Mädchen von Herzen und war stolz auf ihre aufblühende Schönheit, zugleich aber auch in Sorge um sie.
    Und so sagte er ihr: »Du bist nicht verloren, Lyra, solange dieses College steht. Es ist dein Zuhause, bis du es nicht mehr brauchst. Und was das Geld betrifft - dein Vater hat eine Summe für deine Bedürfnisse angelegt und mich zum Vollstrecker ernannt. Über Geld brauchst du dir also keine Sorgen zu machen.«
    In Wirklichkeit hatte Lord Asriel nichts dergleichen getan, doch Jordan College war reich und der Rektor verfügte auch nach den letzten Umwälzungen immer noch über ein Privatvermögen.
    »Was jetzt ansteht«, fuhr er fort, »ist die Frage deiner schulischen Bildung. Du bist noch sehr jung und was du bisher gelernt hast, hing weitgehend davon ab ... Tja, offen gesagt, es hing davon ab, welchen Lehrer unseres College du am wenigsten fürchtetest.« Hier lächelte er. »Es war ohne Plan. Nun könnte es sich herausstellen, dass die Entwicklung deiner Talente eine Richtung nimmt, die wir nicht voraussehen können. Aber wenn du das Alethiometer zum Gegenstand deiner lebenslangen Bemühung machen und durch bewusstes Studium das wieder erlernen möchtest, was du durch Intuition schon einmal wusstest -«
    »Ja«, sagte Lyra fest
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