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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop
Autoren: Philip Pullman
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kehrt sie gleich wieder zurück.«
    »Und was wirst du machen, Mary?«
    »Ich - ich gehe mit Will. Wir gehen erst einmal zu meiner Wohnung, meinem Haus, und morgen schauen wir nach seiner Mutter und sehen, was wir für sie tun können, damit es ihr besser geht. In meiner Welt gibt es so viele Vorschriften. Man muss Auflagen erfüllen und tausend Fragen beantworten. Ich helfe ihm bei den rechtlichen Angelegenheiten, den Behörden, bei der Wohnungsfrage und dem ganzen Kram, dann kann er sich ganz auf seine Mutter konzentrieren. Will ist ein starker Junge ... Aber ich helfe ihm. Außerdem brauche ich ihn. Ich habe meine Stellung verloren und viel Geld habe ich auch nicht mehr auf der Bank. Auch würde es mich nicht wundern, wenn die Polizei hinter mir her wäre ... Er ist der einzige Mensch in meiner Welt, mit dem ich über alles das reden kann.«
    Sie gingen weiter durch die stillen Straßen vorbei an einem eckigen Turm mit einem Tor, das ins Dunkle führte, an der Terrasse eines Cafes entlang, wo Tische auf dem Gehweg standen, und kamen schließlich auf einen breiten Boulevard, in dessen Mitte Palmen wuchsen.
    »Hier bin ich früher vorbeigekommen«, sagte Mary.
    Das Fenster, das Will erstmals in der stillen Vorstadtstraße in Oxford entdeckt hatte, öffnete sich hier. Auf der Oxforder Seite wurde es von Polizei bewacht, oder vielmehr war bewacht worden, als Mary sich mit einer List Durchgang verschafft hatte. Sie sah, wie Will die Stelle erreichte und dann mit den Händen ein paar rasche Bewegungen in der Luft machte - und schon war das Fenster verschwunden.
    »Das wird eine Überraschung geben, wenn man das nächste Mal nachschaut«, sagte sie.
    Lyra beabsichtigte, in Marys Oxford zu gehen und Will etwas zu zeigen, ehe sie mit Serafina die Rückkehr antrat. Sie mussten den Schnitt mit Bedacht setzen. Die Frauen folgten ihnen mit einigem Abstand durch die mondbeschienenen Straßen von Cittàgazze. Rechts dehnte sich eine weitläufige Parkanlage bis zu einer großen Villa mit einem klassischen Säulenvorbau aus, der wie Zuckerguss im Mondlicht glänzte.
    »Als du mir verraten hast, welche Gestalt mein Dæmon hat«, sagte Mary, »sagtest du mir, du würdest mir beibringen, wie man ihn sehen kann, wenn wir genügend Zeit hätten ... Ich wünschte, wir hätten die Zeit.«
    »Nun, wir hatten Zeit«, sagte Serafina, »und geredet haben wir auch miteinander. Ich habe dir Hexenwissen enthüllt, was unter den alten Verhältnissen in meiner Welt verboten gewesen wäre. Doch du kehrst in deine Welt zurück und die alten Verhältnisse haben sich gewandelt. Und ich habe auch viel von dir gelernt. Also: Immer wenn du am Computer mit den Schatten sprachst, musstest du in einer bestimmten geistigen Verfassung sein, oder?«
    »Ja ... so wie Lyra mit dem Alethiometer. Du meinst, ich sollte versuchen, mich wieder in diese Trance zu versetzen?«
    »Versuche es, aber ohne das normale Sehen aufzugeben.«
    In Marys Welt gab es eine Sorte Bilder, die auf den ersten Blick wie eine wahllose Menge von Farbtupfen aussahen, die sich aber, sofern man sie auf eine ganz bestimmte Weise be trachtete, in drei Dimensionen ausdehnten. Vor dem Papier entstand dann plötzlich ein Baum oder ein Gesicht oder sonst ein überraschend solide wirkender Gegenstand, der vorher nicht zu sehen gewesen war.
    Bei dem, was Serafina nun Mary beibrachte, verhielt es sich ganz ähnlich. Sie musste ihr normales Sehen beibehalten und gleichzeitig in das trance-ähnliche Tagträumen gleiten, in dem sie die Schatten sehen konnte. So wie man die Blickrichtungen beider Augen parallel zueinander laufen lässt, um ein dreidimensionales Bild in den Zufallspunktbildern zu erkennen.
    Und wie bei jenen Bildern hatte sie auch hier plötzlich den Dreh heraus.
    »Ah!«, rief sie und griff nach Serafinas Arm, um sich festzuhalten, denn auf dem Eisenzaun vor dem Park saß ein Vogel: glänzend schwarzes Gefieder, rote Beine und ein gebogener gelber Schnabel - eine Alpendohle, wie die Hexe sie früher schon einmal beschrieben hatte. Der Vogel - ein Männchen - war keinen halben Meter entfernt und betrachtete sie mit leicht geneigtem Kopf, so als ob er sich königlich amüsierte. Mary überraschte der Anblick so sehr, dass sie ihre Konzentration verlor, und sogleich war der Vogel verschwunden.
    »Du hast es einmal geschafft«, sagte Serafina. »Beim nächsten Mal wird es dir schon leichter fallen. Wenn du in deiner Welt bist, wirst du auch lernen, die Dæmonen anderer Menschen zu sehen.
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