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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind
Autoren: Das andere Kind
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deren Auto auf dem Hof parkte, verschwunden war, dann traf
    sie, Jennifer, die Schuld oder doch eine Teilschuld.
    Weshalb hatte sie geschwiegen?
    Es war nicht so, dass sie die ganze Zeit über einen konkreten Verdacht gehegt hätte. Wäre dem
    so gewesen, vermutlich hätte sie dann, mit einigem Zögern zwar, aber doch überzeugt, zur
    Polizei gehen können. Aber in vielen Momenten während der letzten Tage war es ihr selbst völlig
    abwegig erschienen, Gwen zu verdächtigen. Gwen, die hingehen sollte und eine alte Frau
    erschlagen, die sie ihr Leben lang kannte, die sie in gewisser Weise mit großgezogen hatte, die
    neben ihrem Vater ihre einzige Bezugsperson darstellte?
    Und schließlich waren da noch die ausgedruckten Dateien gewesen, die ihr Gwen zu Beginn des
    Herbsturlaubs gegeben hatte. »Lies das, Jennifer, bitte. Da stehen Dinge ... Ich weiß nicht,
    was ich davon halten soll ... Ich weiß nicht, was ich tun soll!«
    Nach dem Mord an Fiona hatte sich Jennifer fast erleichtert an den Gedanken geklammert, dass
    hier des Rätsels Lösung zu suchen war. Das andere Kind, das damals in den Kriegsjahren auf die
    Farm gekommen war. An dem Fiona und Chad schuldig geworden waren, wenn nicht vorsätzlich, so
    doch in einer Weise fahrlässig, die nicht geeignet war, sie von der gesamten Schuld
    freizusprechen.
    Gwen hatte ihr auch von Semira Newton erzählt. »Ich habe im Internet recherchiert. Semira
    Newton hat Brian Somerville damals gefunden. Auf einer gottverlassenen Farm. Halb tot. Sie
    wurde von dem Besitzer der Farm überrascht. Ein Wahnsinniger. Er hat sie zum Krüppel
    geschlagen.«
    Und später: »Sie lebt noch. Die alte Frau. In Robin Hood's Bay. Ich habe es
    über das Adressenregist er heraus gefunden. Sie muss es sein. Allzu viele Semira Newtons wird es hier nicht
    geben!«
    Der Fall schien klar. Natürlich hatte Jennifer schließlich von der Polizei angefangen. Gwen war
    fast in Tränen ausgebrochen. »Das wühlt alles auf. Fast vierzig Jahre sind vergangen, niemand
    denkt mehr an diese Geschichte. Soll so viel Dreck nun über Fiona ausgekippt werden? Und mein
    Vater ... er ist ein alter Mann, er hat immerzu Schmerzen in seinem Bein ... soll ich ihm das
    jetzt antun?«
    Auch Colin hatte sofort zu Valerie Almond gehen wollen, hatte sich von Jennifers Bitte, Gwen
    zuliebe davon abzusehen, abhalten lassen. Sie vermutete, dass er sich in seiner Ratlosigkeit an
    Leslie gewandt hatte. Einer hatte dem anderen die Verantwortung zugeschoben, und keiner hatte
    das einzig Richtige getan: sofort die Polizei zu verständigen, weil Gwens Gefühle, ihren Vater
    und Fiona betreffend, in einer solchen Situation nicht ausschlaggebend sein durften.
    Und die ganze Zeit über hatte sie, Jennifer, gedacht: Na bitte. Es war nicht Gwen. Gwen hat
    damit nichts zu tun. Wusste ich es doch!
    Aber die Zweifel waren nie ganz verflogen - die Zweifel, die sie dazu verleitet hatten, Gwen in
    den ersten furchtbaren Stunden nach Bekanntwerden der Mordtat gegenüber der Polizei
    abzusichern.
    Es ist besser, sie bringt sich gleich in Sicherheit, hatte sie gedacht, schließlich hätte sie
    ein Motiv nach allem, was sich Fiona an diesem Abend geleistet hat, und man sollte einfach ein
    bisschen vorbauen.
    Jennifer blieb einen Moment lang stehen, krümmte sich nach vorn, die Hände in die stechenden
    Seiten gestemmt. Tief durchatmen, befahl sie sich, sonst machst du gleich schlapp. Sie blickte
    zurück zur Farm, konnte aber nichts sehen als dunkle Nacht. Colin schien ihr nicht zu folgen.
    Sie hatte den Moment genutzt, als er noch völlig entsetzt neben Chad kniete und sie ihm
    zugerufen hatte, sie werde nach Verbandszeug suchen, um schnell und lautlos das Haus zu
    verlassen. Er hätte sie nie gehen lassen, hätte mitkommen wollen oder Erklärungen verlangt, und
    was hätte sie ihm sagen sollen? Dass die intuitive Angst, Gwen könne eine Mörderin sein, die
    sich von Anfang an in ihr eingenistet hatte wie ein kleiner, giftiger Stachel, dass der Stachel
    größer und schmerzhafter geworden war während der letzten Stunden und dass sich in den Minuten
    nach dem Eintreffen auf der Farm das Gift in ihrem ganzen Körper ausgebreitet und ihr fast den
    Atem genommen hatte? Dass sie Angst um Dave Tanner und um Leslie Cramer hatte und dass sie
    nicht warten wollte, bis die Polizei kam, die Colin nun sicherlich sofort verständigen würde.
    Er würde sich auch um einen Krankenwagen für Chad kümmern. Sie wurde dort, auf der Farm, für
    den Moment nicht
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