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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
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und
zuzusehen, wie sein Publikum sich zerstreute. Zuschauer, die ihn zur
Vorstellung beglückwünschen wollten, blieben gelegentlich noch ein bisschen,
und er war gar nicht abgeneigt, mit jedem von ihnen noch ein, zwei Minuten lang
nichtssagende Worte zu wechseln und sich für ihre Komplimente zu bedanken. Eine
kleine Schar Bewunderer wartete heute Abend, und er behandelte alle mit
gewohnter Artigkeit.
    Eine Frau jedoch blieb länger als die anderen.
    Moon streckte sich und gähnte. Er war keineswegs
müde, denn während dieser Wochen und Monate, wenn die Langeweile ihn nicht
losließ, schlief er des Öfteren den ganzen Tag hindurch und verbrachte auf
diese Weise häufig zwölf oder dreizehn Stunden im Bett. »Ja?«, wandte er sich
der Zurückgebliebenen zu.
    Die Frau schien ein Fremdkörper auf dem Albion
Square. Aristokratisch wirkend, elegant in ihren mittleren Jahren angelangt,
schien sie von Reserviertheit und herablassender Kühle umweht. In ihren
Jugendtagen, sinnierte Moon, musste sie eine beachtliche Schönheit gewesen
sein …
    »Ich bin Lady Glendinning«, begann sie, »aber Sie
dürfen mich Elizabeth nennen.«
    Moon tat sein Bestes, unbeeindruckt zu wirken und
setzte eine gleichgültige Miene auf. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu
machen.«
    »Ich fand Ihre Vorstellung nicht unamüsant.«
    Er hob die Schultern. »Dann danke ich für Ihren
Besuch.«
    »Mister Moon?« Sie unterbrach sich. »Ich habe
gewisse Dinge über Sie gehört.«
    Er hob eine Braue. »Und was haben Sie da gehört?«
    »Dass Sie mehr sind als nur ein Zauberkünstler.
Dass Sie Nachforschungen anstellen.«
    »Nachforschungen?«
    »Ich habe ein Problem. Ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Fahren Sie fort.«
    Lady Glendinning ließ ein sonderbares Schnüffeln
vernehmen. »Mein Gatte ist tot.«
    Moon brachte einen brauchbaren Abklatsch von
Mitgefühl zustande. »Mein Beileid.«
    »Er wurde ermordet.«
    Dieses letzte, berauschende Wort hatte einen
kolossalen Effekt auf den Mann. Allein der Klang ließ es ihm schon zu Kopfe
steigen, und nur eine gewaltige Willensanstrengung ermöglichte es ihm, ein
breites Grinsen zu unterdrücken.
    »Ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass dem
Gesetz Genüge getan wird«, fuhr sie fort, »aber die Polizei ist mit dem Fall
hoffnungslos überfordert. Ich bin sicher, sie würde die Sache nur verpfuschen.
Also dachte ich an Sie. Ich muss gestehen, dass ich schon als junges Mädchen
eine Bewunderin Ihrer Husarenstücke war.«
    Moons Eitelkeit gewann die Oberhand. »Als
junges
Mädchen
?«, fragte er ungläubig. »Wie lange ist das her?«
    »Ein paar Jährchen. Doch eines Tages merkt man,
dass man das Alter für Detektivgeschichten hinter sich gelassen hat, nicht
wahr?«
    »Ach ja, tut man das?« Moon selbst hatte das noch
nie bemerkt.
    Lady Glendinning bedachte ihn mit einem frostigen
Lächeln. »Werden Sie mir helfen?«
    Moon ergriff die Hand der Lady und küsste sie.
»Madam«, sagte er, »es wird mir eine Ehre sein.«
    Edward Moon und der Schlafwandler
lebten, so unglaublich es auch klingen mag, in einem Keller unter dem Theater.
Sie hatten das ganze Untergeschoss in eine behagliche Wohnung verwandelt, mit
dem Ergebnis, dass ihnen nun zwei Schlafzimmer, eine ansehnlich ausgestattete
Küche, ein Salon, eine umfangreiche, wenngleich hoffnungslos vollgestopfte
Bibliothek und aller sonstige denkbare Komfort der Neuzeit unter dem Theater
des Unglaublichen zur Verfügung standen. Keine Frage, dass ihr Publikum nicht
die leiseste Ahnung von dieser unterirdischen Häuslichkeit, diesem versunkenen
Zufluchtsort hatte.
    Mit dem Versprechen, ihr am nächsten Tag einen
Besuch abzustatten, verabschiedete sich Moon von Lady Glendinning. Die Aussicht
auf Abwechslung und Unterbrechung seiner Langeweile versüßte ihm augenblicklich
die Laune, und als er seine Schritte in Richtung der strategisch plazierten
Rhododendren lenkte, welche die Holzstufen hinab zu seinem Wohnsitz tarnten,
lag ein heimliches Lächeln auf seinen Lippen.
    Wie üblich saß Mister Speight auf den
Stufen – oder, besser, er lungerte.
    Speight war ein heruntergekommener Mensch, ein
bettelarmer Mensch, dessen dauernde Anwesenheit Moon nun schon seit Langem
duldete, was zur Folge gehabt hatte, dass aus Speight nach und nach so etwas
wie ein Inventarstück des Hauses geworden war. Ungekämmt und mit ungepflegtem
Bart steckte der Mann in einem schmutzigen Anzug, und eine Batterie leerer
Flaschen schmiegte sich traurig an seine Füße. Neben ihm lehnte eine
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