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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
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Applaus!«,
rief er, »Applaus für den bemerkenswertesten Mann der Stadt! Er schläft! Und
ist zugleich hellwach! Der gefeierte Schlafwandler vom Albion Square! Meine
Damen und Herren – der Schlafwandler!«
    Das Publikum stieß ein beifälliges Gebrüll aus,
und der Riese brachte eine steife, verlegene Verbeugung zustande.
    Aus den hinteren Reihen schrie jemand: »Die
Schwerter!«, und die anderen fielen ein und wiederholten im Chor immerzu
dieselben beiden Wörter »Die Schwerter! Die Schwerter!«
    Moon gab dem Schlafwandler einen
freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. »Also komm«, sagte er. »Wir dürfen
unser Publikum nicht enttäuschen.« Halblaut fügte er hinzu: »Und vielen Dank.«
    Moon verschwand hinter der Bühne und kehrte mit
einem halben Dutzend garstig aussehender Schwerter (langfristig ausgeliehen von
den Coldstream Guards Ihrer Majestät) zurück. Die Kapelle stimmte eine
volkstümliche Melodie an, und auf dieses Zeichen hin entledigte sich der
Schlafwandler des Jacketts und präsentierte sich in einem makellos weißen,
gestärkten Hemd.
    Im Saal war es mäuschenstill, während alle auf das
warteten, von dem jedermann wusste, dass es kommen musste. Einer der Zuschauer
wurde auf die Bühne gebeten, um die Echtheit der Waffen zu prüfen und zu
bestätigen, dass der Schlafwandler keinerlei Schutzpolsterung, ausgeklügelte
mechanische Sicherungsgeräte oder sonstige geheime Vorrichtungen am Körper
trug. Als das erledigt war, zog Moon eines der Schwerter und trieb unter den
umbarmherzigen Strahlen der Lampen und für alle deutlich zu sehen die Klinge
tief in die Brust des Hünen. Mit einem nassen, schlürfenden Geräusch drang die
Spitze ins Fleisch des Mannes, bevor sie Sekunden darauf mit einer
Unausweichlichkeit, die einem den Magen zusammenkrampfte, aus der Mitte seines
Rückens wieder zum Vorschein kam. Einige Zuschauer riefen Bravo!, etliche
schnappten nach Luft, und andere wieder glotzten wie betäubt auf die Bühne.
Einige Damen (und mehr als nur ein Herr) fielen in Ohnmacht.
    Der nächste Trommelwirbel und die nächste Klinge,
die Moon diesmal mitten durch den Hals des Schlafwandlers stieß, sodass sie am
Nacken wieder austrat. Ohne Unterbrechung fuhr er fort, nacheinander zu den
übrigen Schwertern zu greifen, spießte den Schenkel des Riesen auf, seine Hüfte,
wiederum die Brust und zuletzt die wohl schmerzempfindlichste Stelle des
Mannes, das Gemächt.
    Wie ein gelangweilter Bahnpassagier, der auf den
Vorortezug wartet, gähnte der Schlafwandler nur ausgiebig dazu. Während dieses
ganzen Martyriums blieb er ohne Regung, immun gegen all das, was ihm doch die
schlimmsten Höllenqualen verursachen sollte. Jeder andere Mann wäre längst
gewankt und gefallen, aber der Riese überstand alles völlig unbeeindruckt.
    Doch das vielleicht Verblüffendste an der ganzen
Nummer kam zum Schluss. Als Moon die Schwerter aus dem Körper seines
Assistenten zog und sie zur allgemeinen Ansicht hochhielt, sah ich, dass nicht
nur auf den Klingen jegliche Spur von Blut fehlte, sondern darüber hinaus das
Hemd des Schlafwandlers, obwohl nunmehr zerstochen und zerrissen, makellos weiß
geblieben war.
    Beide Männer verbeugten sich unter ehrlichem
Applaus. Der berühmteste Teil ihrer Darbietung hatte keinen Anlass zu
Enttäuschung gegeben.
    Zweifellos nahm das Publikum an, dass das, was es
gesehen hatte, auf irgendeiner optischen Täuschung beruhte. Einige Zuschauer
mochten beiläufige Mutmaßungen angestellt haben über Theaterschwerter,
Gaukelwerk, listige Taschenspielertricks, präparierte Hemden und Spiegel. Doch
in welche Richtung ihre Gedankengänge auch verliefen, es bezweifelte wohl kaum
einer von ihnen, dass das, was er gerade gesehen hatte, nicht mehr gewesen war
als ein außergewöhnlich beeindruckender Beweis von Fingerfertigkeit. Ein
Zauberkunststück für den abendlichen Salon. Irgendein Hokuspokus.
    Die Wahrheit jedoch war, wie Sie bald sehen
werden, weitaus eigentümlicher.
    Der Rest der Vorstellung fand ohne
Zwischenfall statt, und das Publikum schien zufrieden den Heimweg anzutreten.
    Dennoch war Edward Moon nicht glücklich. Schon
seit Jahren war er des ewig gleichen allabendlichen Trotts müde, und nur der
Versuch, die Ode des Alltags einigermaßen zu unterbrechen, ließ ihn damit
fortfahren. Moon litt an chronischer, gefährlicher, tödlicher Langeweile.
    Er hatte die Angewohnheit, das Theater nach der Vorstellung
durch die Bühnentür zu verlassen, um auf der Straße noch zu rauchen
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