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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
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geschah, schließt dies als ernsthafte Hypothese wohl mit
Sicherheit aus.
    Nach der zweiten Möglichkeit wäre unser Held ein
außerordentlich scharfer Beobachter winzigster Einzelheiten gewesen, ein Mann,
der sich meisterhaft darauf verstand, daraus die richtigen Schlussfolgerungen
zu ziehen, ein Mann intuitiver Erkenntnisse, die aus demselben Holz geschnitzt
waren, an dem sich schon Sir Arthur und Mister Poe versucht hatten. Falls diese
letztere Annahme richtig wäre, dann soll folgendes – als eine
Weiterführung der wenigen bislang bekannten Tatsachen – der Versuch sein,
die Wege seiner Gedanken nun meinerseits zu beschreiten.
    Dass der Mann Kammerdiener war, ergab sich ganz
klar aus dieser leicht mürrischen Unterwürfigkeit, mit der er auftrat; dass er
verheiratet war, aus seinem Ehering; dass er Kinder hatte, aus den zwei
apfelgroßen Sahnebonbons, die klebrig aus seinen Jackentaschen hervorquollen
und die – so könnte man annehmen – ein Mitbringsel für die Kleinen
sein sollten. Dass sein Vater Schneider gewesen war, erkannte man an der
Maßarbeit seines Jacketts, das im Vergleich zur dürftigen Qualität seiner
übrigen Kleidung auffallend fein ausgeführt war; und dass der bedauernswerte
Altvordere von der Schwindsucht dahingerafft worden war, machte der schwache
Friedhofsgeruch nach Moder und Krankheit deutlich, der das Jackett immer noch
heimtückisch umwehte. Ein unverwechselbarer Hauch von Fisch aus Gaskins Mund
und dahinter ein unterschwelliger Anflug von Fäulnis machten es leicht, auf das
Abendbrot des Mannes zu schließen. Die Rückstände des kostspieligen Öls unter
seinen Fingernägeln – eines Öls, das nur für die Restaurierung alter Uhren
benutzt wurde – machte das Erraten seines Lieblingszeitvertreibs so
einfach, als hätte er ihn auf die Stirn tätowiert.
    Doch zweifellos werden Sie sagen, dass solche
Dinge nur in billigen Romanen und auf der Bühne passieren. Und vielleicht habe
ich mich in der Tat von der reißerischen Geschmacklosigkeit einer gewissen
sensationslüsternen Prosa ungebührlich beeinflussen lassen.
    Die dritte Möglichkeit erscheint mir jedoch auf
den ersten Blick noch weniger überzeugend: dass nämlich Edward Moon über Kräfte
verfügte, die sich jeder Erklärung durch die herkömmliche Wissenschaft
entzogen, dass er in Gaskins Seele blicken konnte und verstand, was darin
vorging, dass er – so grotesk und aberwitzig es hier in geschriebener Form
erscheinen muss – tatsächlich Gedanken lesen konnte.
    Der Applaus verklang.
    »Mister Gaskin? Ich möchte Sie etwas fragen.«
    »Was Sie wollen!«
    »Wann haben Sie die Absicht, es Ihrer Frau zu
sagen?«
    Ein Schatten legte sich über das Gesicht des
Mannes. »Ich verstehe nicht.«
    Moon richtete seine nächsten Worte an die nicht zu
beneidende Mrs Gaskin, die immer noch mit vor Stolz hochroten Wangen vor ihrem
Sitz in der dritten Reihe stand. »Sie haben mein tiefstes Mitgefühl, Madam«,
sagte er. »Es ist mir wahrlich keine Freude, Ihnen mitteilen zu müssen, dass
Ihr Gatte ein Lügner, ein Betrüger und ein Ehebrecher ist.«
    Ein vereinzeltes, entzücktes Kichern da und dort
aus dem Publikum.
    »Seit elf Monaten unterhält er intime Beziehungen
zu einem Küchenmädchen. Und seit vierzehn Tagen quält die beiden die Sorge,
dass die Affäre nicht ohne Folgen geblieben sein könnte.«
    Jähe Stille senkte sich auf die Zuschauer, und das
Lächeln erstarb auf Mrs Gaskins Lippen. Beschwörend starrte sie ihren Ehemann
an und stotterte Unverständliches vor sich hin.
    »Der Teufel soll Sie holen!«, zischte Gaskin und
machte Anstalten, sich auf Moon zu stürzen. Doch noch ehe er dazu ansetzen konnte,
glitt eine Gestalt auf die Bühne und schob sich wortlos zwischen die beiden wie
ein lebendes Fallgitter, das umgehend zum Schutz des Zauberkünstlers
herabgelassen wurde.
    Gaskin blickte auf und erkannte, dass er dem
Schlafwandler gegenüberstand; sein Gesicht befand sich ungefähr auf gleicher
Höhe mit dem Brustbein des Giganten. Der riesige Mann stand vor Moon so
leidenschaftslos und stumm wie eine Steinstatue von der Osterinsel. Angesichts
einer so unüberwindlichen Naturkraft, eines so unbeugsamen Widerstands machte
sich Gaskin rasch und kleinlaut davon und verließ, reumütige Entschuldigungen
stammelnd, mit ängstlicher Hast die Bühne und das Theater, seine Frau auf den
Fersen.
    Moon gestattete sich währenddessen ein leises
Lächeln milder Schadenfreude, bevor er die Arme hochwarf. »Und nun
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